Allan Borup: Demokratisierungsprozesse in der Nachkriegszeit. Die CDU in Schleswig-Holstein und die Integration demokratieskeptischer Wähler. Übersetzt von Detlef Siegfried (= IZRG-Schriftenreihe; Bd. 15), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2010, 288 S., ISBN 978-3-89534-785-6, EUR 24,00
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Der dänische Deutschlandhistoriker Allan Borup legt einen bemerkenswerten Versuch vor, die Frage nach der politischen Integration von Demokratieskeptikern, darunter ehemaligen Nationalsozialisten und NS-Tätern, in den demokratischen Nachkriegskonsens auf Basis regionaler Quellen neu aufzurollen. Das passt gut zur gegenwärtigen Debatte über "Das Amt".[1] Letzteres hat eine kleine Funktionselite einmal mehr ins Zentrum historischer Aufmerksamkeit gerückt. Borup hingegen zielt weniger auf den kleinen Ausschnitt der für Sensationen immer guten Elitenkontinuität. Es geht ihm um die breiten Wählerschichten, die Demokratisierung der Gesellschaft insgesamt sowie den Wandel der politischen Kultur im Nachkriegsjahrzent bis ca. 1954. Er fragt, wie es der CDU in Schleswig-Holstein glückte, durch Wahlkampagnen, inhaltliche Deutungsangebote und mittels personalpolitischer Weichenstellungen, Demokratie-Skeptikern und erklärten Feinden der Demokratie Brücken in die Demokratie zu bauen. Wie wurden ganz konkret - und das "konkret" wird hier betont - frühere Nazis, ehemalige Wehrmachtssoldaten, aber auch Flüchtlinge und ehemals deutschnational orientierte, konservativ-protestantische Honoratioren in die demokratische politische Kultur der Bundesrepublik integriert bzw. eine demokratische Kultur durch deren Integration überhaupt erst geschaffen?
Dadurch wird das Verhältnis von "Bewältigung" und Demokratisierung in Besatzungszeit und früher Bundesrepublik konkretisiert und auf eine breitere Basis gestellt. Meines Erachtens zeigt die vorliegende Studie einmal mehr, dass der Kontrast zwischen Demokratie und Bewältigung letztlich eine falsche, aus den 1970er und 1980er Jahren stammende Dichotomie ist. Auch Borup kann nicht abschließend entscheiden, "ob die apologetische Darstellung der NS-Vergangenheit notwendig war, um Demokratieskeptiker für die neue Staatsform zu gewinnen" (253). Letztlich war ihm zufolge die "demonstrative Verteidigung der nationalen Ehre durch die CDU" Ausdruck einer konkreten politischen Strategie; ein, wenn man so möchte, rationales wahltaktisches Manöver, um die Rechte unter das Dach der CDU zu holen. Bekanntlich war Schleswig-Holstein, wo bis 1933 die NSDAP reichsweit die höchsten Stimmenanteile einfuhr, eine Hochburg sowohl der NSDAP-Nachfolgeorganisation Sozialistische Reichspartei (SRP) als auch der ursprünglich aus Niedersachen stammenden rechtskonservativen Deutschen Partei (DP). Deshalb und wegen des hohen Anteils an Flüchtlingen (bis zu 50%) kann man Schleswig-Holstein wohl als Testfall für die Bindekräfte der zweiten deutschen Demokratie sehen. Eine kritische Thematisierung der NS-Vergangenheit hätte Borup zufolge nicht nur die bürgerliche Klientel verprellt, sondern die Integration des demokratieskeptischen Bodensatzes "wohl unvermeidlich" gehemmt (253). So habe sich das die britische Besatzungsmacht nicht vorgestellt. Mit Apologetik wurde der Preis für den Eintritt in die Demokratie entrichtet.
Borups methodischer Zugriff erfolgt über eine Untersuchung der politischen Strategie der CDU. Diese Strategie wird aus den Verlautbarungen der Parteiführer selbst, den Berichten des britischen Nachrichtendienstes und punktuell auch aus Tagebüchern und Leserbriefen rekonstruiert. Überwiegend geht es also um die Selbstdarstellung einer um ihre Wähler bemühten Partei. Im Vergleich zum katholischen Rheinland oder zu Baden konnte die CDU in Schleswig-Holstein nicht an die Zentrumstradition anknüpfen und musste sich ihre politische Basis erst schaffen. Dies glückte erstaunlich schnell, 1950 war die CDU die dominierende politische Kraft. Hier ergänzt und revidiert Borup wesentlich das Standardwerk von Frank Bösch, der in seiner Geschichte der "Adenauer-CDU" die vergangenheitspolitischen Ansätze nur am Rande thematisiert. [2] Für Borup stellen vergangenheitspolitische Positionen den wichtigsten Anker der politischen Strategie der CDU in Schleswig-Holstein dar. Diese reichten von recht allgemeinen, breite Kreise ansprechenden Identifikationsangeboten wie der Betonung der "Opferbereitschaft des deutschen Soldaten" über die systematische Torpedierung bzw. das Rückgängig-Machen der Entnazifizierung, die scharfe rhetorische Distanzierung von der "Besatzungsmacht" bis hin zur konsequenten Besetzung von politischen Ämtern durch ehemalige, aber als geläutert eingestufte Nazis. Angesichts derartig volksgemeinschaftlicher Reflexe war Schleswig-Holstein - wie der Rest der Nation - weit davon entfernt, die Vergangenheit verschämt zu "beschweigen". Im Gegenteil: Die Selbstdarstellung der CDU sei überwiegend um dieses Thema gekreist (258).
Der zweite Anker christdemokratischer Politik in Schleswig-Holstein war neben der Apologie des Nationalsozialismus die Strategie einer bürgerlichen "Sammlung" rechts von der Mitte. Das ist bekannt, aber Borup gibt dieser Blockbildung eine etwas andere interpretatorische Note. In der Umdeutung von "Sammlung" als parteipolitischer Lagerbildung rechts von der Mitte lag eine wichtige politische Innovation. Die erwähnten vergangenheitspolitischen Angebote zur nationalen "Versöhnung" und Integration der schwarzen Schafe, aber auch die scharf antikommunistische und westeuropäische Umdeutung der Nation, sollten rechte politische Ströme auf die wahlpolitischen Mühlen der CDU lenken. Bekanntlich gelang es der Adenauer-CDU sowohl regional als auch bundespolitisch kleinere, von ihr als "Splitterparteien" konsequent gebrandmarkte Gruppierungen wie die DP oder den BHE "erdrückend" zu umarmen bzw. durch Personalpolitik aufzusaugen und so wahlpolitisch unschädlich zu machen. Borup zufolge sei dadurch das anti-demokratische bzw. demokratieskeptische Potential der Weimarer Gemeinschaftsrhetorik entwertet worden. Der Trick war, dass die gemeinschaftsstiftende Idee der "Sammlung" auf das rechte politische Spektrum begrenzt wurde. Das differenziert bisherige Forschungsergebnisse und stellt diese meist Adenauer persönlich zugeschriebene Integrationsleistung in einen weiteren Horizont: "Zersplitterung" war schlecht - damals wie heute. Nur wurde dieser volksgemeinschaftliche Überhang aus Weimar und dem 'Dritten Reich' nun anders gedeutet. Sammlung bezog sich nicht mehr auf das gesamte Volk, sondern nur auf den Teil von der Mitte bis ganz rechts.
Entscheidend war aus meiner Sicht folgendes: Die CDU in Schleswig-Holstein (aber nicht nur dort) hat sich in den 1950er Jahren auf ein konflikttheoretisches Modell von Demokratie als organisiertem Streit der politischen Parteien zu bewegt. Konsens wurde innerhalb des Lagers hergestellt (und erwartet), durch parteipolitische Integration des Spektrums Mitte-rechts. Konflikt zwischen den Lagern hingegen war nicht länger illegitim. Lagerübergreifende 'Große' Koalitionen der Demokraten wie die Weimarer Koalition wurden im konservativen Spektrum zunehmend als der systemwidrige Ausnahmefall gesehen. Das stellte eine beträchtliche Innovation innerhalb der politischen Kultur in Deutschland dar, wenn es auch ursprünglich nicht so beabsichtigt gewesen sein mag. Vorstellungen von "nationaler Einheit" wurde eine parteipolitisch unterfütterte Lagerhetorik entgegen gesetzt. Dies dürfte Zweifel und Skepsis gegenüber dem Mehrparteiensystem ausgeräumt haben, so Borups Resümee. Wie sehr aber diese Entwicklung schon in den 1950er Jahren vollzogen war, wäre kritisch nachzufragen. Da Borups Darstellung im Wesentlichen mit der zweiten Bundestagswahl 1953 endet, unterschätzt er evtl. die Beharrungskräfte von Vorstellungen von "Demokratie als einem System des inneren Unfriedens". Diese waren in den 1960er und 1970er Jahren noch virulent (siehe Große Koalition 1966) und sind bis heute nicht vollständig gebrochen. Immerhin wurde Konflikt, wenn auch in der eingehegten Variante zwischen "rechts" und "links", als notwendiger Bestandteil einer demokratischen politischen Kultur bereits in den 1950er Jahren zunehmend als kleineres Übel und damit quasi als Normalfall verstanden.
Borup gelingt es, auf regionaler Basis weiter führende Thesen zu generellen Tendenzen der politischen Kultur der Bundesrepublik zu formulieren. Es wäre aufschlussreich, noch genauer zu erfahren, wie regionale Entwicklungen, gerade auf parteiorganisatorischer Ebene, sich mit entsprechenden Tendenzen auf der Bundesebene überlappten, aber auch von dort eingeholt und zum Teil überholt wurden. Es wird nicht ganz klar, wie die Gründung der Bundesrepublik die regionale Politik zur Anpassung an das neue nationale politische System zwang und wie hier die Kommunikation zwischen Land und Bund bzw. Bundes- und Landespartei verlief. Immerhin saß der Hauptprotagonist der schleswig-holsteinschen CDU, der 1952 verstorbene Carl Schröter, ab 1949 im Bundestag. Auch Adenauers Rolle wird nur knapp thematisiert. Es wäre noch genauer zu untersuchen, inwiefern die CDU schon in den 1950er Jahren Vorstellungen von der Konflikthaftigkeit der Demokratie affirmativ besetzte und wer innerhalb der Partei Konflikt nicht länger als notwendig gemeinschaftssprengend und defizitär verstand. Borup gibt den Hinweis, dass der "Liebe zum Mehrparteiensystem" enge Grenzen gesetzt waren (250). Auf kommunaler Ebene blieb Parteipolitik ein schmutziges Wort. Auch wurde in späteren Phasen, etwa aus Anlass der Pläne für eine Große Koalition in den 1960er Jahren, die Gemeinschaftsrhetorik gerne wieder hervor gekramt. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass diese sehr lesenswerte, flüssig geschriebene, quellengesättigte Studie zur politischen Kultur der frühen Bundesrepublik einen wichtigen Baustein zu einer differenzierten historischen Analyse des 'Demokratiewunders' liefert.
Anmerkungen:
[1] Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes u.a. (Hgg.): Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.
[2] Frank Bösch: Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945-1969, München / Stuttgart 2001.
Philipp Gassert