François Walter: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart: Reclam 2010, 385 S., ISBN 978-3-15-010699-0, EUR 29,95
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François Walter hat mit seiner Kulturgeschichte von Katastrophen, vom Beginn der Frühen Neuzeit bis heute, eine Herkulesaufgabe bewältigt. Im Abendland wurden über die Jahrhunderte eine gewaltige Menge von Kanzelreden, wissenschaftlichen Traktaten, literarischen Texten und Kunstwerken zu Katastrophen hervorgebracht. Aus diesem riesigen Materialkonvolut hat der Autor Hunderte von Beispielen, insbesondere aus der Schweiz, Frankreich und Deutschland, zusammengestellt.
Um daraus eine Kulturgeschichte zu formen, musste ein roter Faden durch die Quellenflut hindurch erkennbar werden. Der Kandidat einer dreiphasigen Gliederung, in der erst ein strafender Gott, dann die fatalistische Natur und letztlich der Mensch für Katastrophen verantwortlich gemacht wird, wird in der Einleitung als "eine unzulässige Vereinfachung" in die Schranken gewiesen (22). Gleichwohl sei diese Einteilung auch nicht ganz falsch und mangels besserer Alternativen lehnt sich Walters chronologische Gliederung eben an diese Phasen an. Er versucht, den Blick dafür zu schärfen, dass die verschiedenen Erklärungsmotive stark miteinander verflochten sind und lediglich Tendenzen und Verlagerungen in der Geschichte herausgestellt werden können. Die Entkräftung einer Fortschrittserzählung, von einem religiös hin zu einem rational geleiteten Umgang mit Katastrophen, ist nicht neu. Allessa Johns hat mit Blick bis zurück in die Antike das fortwährende Nebeneinander von beiden Erklärungstypen verfolgt. [1] Auf theoretischer Ebene hat die Kulturanthropologin Mary Douglas gezeigt, wieso sich die Formen des Wissens moderner Gesellschaften prinzipiell von scheinbar irrationalen traditionellen Gesellschaften nicht unterscheiden.
Walters Untersuchungsfeld zeichnet sich durch eine Vielzahl komplexer Kernbegriffe aus: neben "Katastrophe" gehören dazu "Risiko", "Gefahr" und "Natur". Den Begriff der Katastrophe erklärt der Autor als Ergebnis der gedanklichen Trennung von Mensch und Natur (19). Betrachtet er die Natur-Gesellschaftsdichotomie aber als Konstrukt des 19. Jahrhunderts (206), so fragt es sich, wie man dann sinnvoll über Katastrophen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts sprechen kann. Die Verbindung von natur- und sozialwissenschaftlichen Daten mit Jakubowski-Tiessens Untersuchung der Sturmflut von 1717 (von 1992) beginnen zu lassen, erscheint vor dem Hintergrund einer ausgedehnten geographischen Literatur seit Gilbert White (seit 1945) gewagt. Darüber hinaus wird die Trennung Gefahr-Risiko zwar gezogen, jedoch ohne auf die einschlägigen Überlegungen seit Luhmann einzugehen (16). [2]
In seinem ersten großen Kapitel "Die alten Gesellschaften sind keine Katastrophengesellschaften (16.-18. Jahrhundert)" macht Walter seine Titelthese plausibel. Er beschäftigt sich ausführlich mit religiösen Praktiken und Deutungsmustern, erklärt konfessionelle Unterschiede und das wichtige Konzept der Providenz, ohne dabei Passivität oder Resignation zu unterstellen. Andachtsübungen und Frömmigkeitspraktiken werden als Instanz zur Traumabewältigung dargestellt (36), ebenso wie Teufelsaustreibung und Glockengeläut psychologisch funktional interpretiert werden (42).
Auch die übergeordnete These des zweiten Kapitels erscheint schlüssig. Demnach verlagerten sich die Erklärungen für Naturkatastrophen seit dem Erdbeben von Lissabon (1755) immer stärker in Richtung der Natur, anstelle von Gott. Solche rational-säkularen Erklärungen lieferten den Obrigkeiten die Möglichkeit "sich der Verantwortung für die Ereignisse zu entledigen" (134). Mithilfe von Wissenschaft können Krisensituationen benutzt werden, um institutionalisierte Macht und gesellschaftliche Normen zu festigen. Komplementär zu dem "Alibi der Natur" (184) erscheint Walter die sinnhafte Deutung der Katastrophe durch Literatur und Kunst, aber auch in Rückgriff auf theologische Konzepte, bedeutsam. Wie stark die Rolle menschlicher Handlungsfreiheit zu bewerten ist, geht aus den Kommentaren des Autors nicht klar hervor. Zunächst konstatiert er "menschliches Handeln" als Möglichkeit, Daseinskontingenzen zu beeinflussen zu einem Charakteristikum aufgeklärter Gesellschaften (180), um schon eine Seite später diese Bedeutung (innerhalb eines naturalistischen Weltbildes) bis zum 20. Jahrhundert auf ein Minimum herabzusetzen (181).
Nach dem ersten Weltkrieg (Kapitel 3) sei ein anthropozentrisches Katastrophenbewusstsein mit den Kerntermini Risiko und Ungewissheit prägend gewesen. Soziale Missstände würden zu Ursachen der Katastrophen deklariert und aus einer Beschuldigung einzelner Sünder hätte sich eine Gesellschaftstheorie der Kollektivschuld entwickelt, die letztlich in Ulrich Becks Konzept der Risikogesellschaft aufginge. Hier vernachlässigt der Autor seine einleitenden Erkenntnisse, indem er Rousseaus Ideen von der gesellschaftlichen Verantwortung für das Erdbeben von Lissabon - die vorher ausgeführt wurden (105) - nicht in den Kontext stellt. Abgesehen davon bleibt Walter den Grund dafür, warum die Gesellschaft des Risikos mit 1918 beginnt, weitgehend schuldig. Der Begriff des "Risikos" ist im Zusammenhang mit Schifffahrtsunglücken und Spiel wesentlich älter (142), in den Sprachgebrauch bezüglich Katastrophen geht er aber erst seit den 1970er Jahren ein (24, 204). So scharfsinnig Analogien zu den Praktiken vormoderner Gesellschaften gezogen werden, so wenig spricht dies für einen neuen Modus des Risikos. Wurde früher der "unzüchtige Lüstling" tabuisiert, ist es nun der "Umweltverschmutzer", der das ökologische Gleichgewicht stört (211). Die Gutachtertätigkeit habe die Astrologie abgelöst und die Debatte um Risiken nehme "immer mehr die Züge eines Glaubenskriegs an" (213). Auch religiöse Muster werden in diesem Zusammenhang wiederbelebt. Die quantitative Auswertung von "apokalyptischer Literatur", die eine deutliche Zunahme innerhalb des 20. Jahrhunderts belegt, müsste zusätzlich am Maßstab der allgemeinen Zunahme von Literatur in diesem Zeitraum relativiert werden. Die Geschichte der Ökologiebewegung in eine Kulturgeschichte der Katastrophe mit einzubetten, ist eine gerechtfertigte Entscheidung, versteht sich aber nicht unbedingt von selbst.
Hier, wie an anderer Stelle, wäre es wünschenswert gewesen, Erläuterungen des Autors zu finden. So werden lange Reihen von kulturellen Produkten wie Büchern oder Bildern zusammengetragen, ohne sie angemessen einzuordnen. Die Besprechungen von Daniel Defoe (49) oder von Courrières (168) bleiben zum Beispiel stark unterbelichtet, wenn man die vorhandene Forschungsliteratur betrachtet. [3] Auch theoretisch ausgerichtete Studien werden oft nur satzweise herangezogen, so Ernst Bloch oder Anthony Giddens (180). Inhaltlich scheint die Fortschrittsidee, wie sie insbesondere im US-amerikanischen Kontext eine wichtige Rolle spielt, etwas zu kurz gekommen zu sein. [4] Außerdem unterschlägt die Betonung einer historischen Bewegung von individueller Sünderbestrafung hin zu einer kollektiven Risikogesellschaft, dass es auch gute Gründe gibt, in die entgegen gesetzte Richtung zu argumentieren: nämlich von einer moralischen Gemeinschaft, in der ganze Städte für die Sünden einiger weniger bestraft werden, hin zu einer individualistischen Gesellschaft, in der jeder sein eigenes Risiko trägt. Walters Buch ist eine gut recherchierte Fundgrube, der es aber an Klarheit in der Gedankenführung zuweilen mangelt. Es setzt immerhin heutige und frühere Gesellschaften und ihren Umgang mit Katastrophen angemessen ins Verhältnis und kommt zu dem Schluss, dass es eine Webersche Entzauberung der Welt vielleicht nie gegeben habe.
Anmerkungen:
[1] A. Johns (ed.): Dreadful Visitations - Confronting Natural Catastrophe in the Age of Enlightenment, New York & London 1999
[2] N. Luhmann: Soziologie des Risikos, Berlin 1990
[3] Z. B. G. Starr: Defoe and Disasters. In: A. Johns: Dreadful Visitations - Confronting Natural Catastrophe in the Age of Enlightenment, New York & London 1999; M. Farrenkopf & P. Friedemann (Hg.): Die Grubenkatastrophe von Courrières 1906. Aspekte transnationaler Geschichte, Bochum 2008. http://www.sehepunkte.de/2010/01/16762.html
[4] K. Rozario: The Culture of Calamity. Disaster and the Making of Modern America, Chicago 2007.
Patrick Masius