Max Hollein / Klaus Herding (Hgg.): Courbet. Ein Traum von der Moderne, Ostfildern: Hatje Cantz 2010, 304 S., ISBN 978-3-7757-2628-3, EUR 39,80
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Manchmal wiederholt sich die Ausstellungsgeschichte: Max Hollein, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, schreibt im Vorwort zum hier rezensierten Ausstellungskatalog Courbet. Ein Traum von der Moderne, Klaus Herding habe ihm im Jahr 2005 vorgeschlagen, eine Courbet-Ausstellung zu zeigen, also just zu dem "Zeitpunkt, als gerade die finalen Vorbereitungen zur großen Courbet-Retrospektive im Pariser Grand Palais [...] auf Hochtouren liefen" (7). Diese Reihenfolge gab es 1977 bei den Ausstellungen anlässlich des 100. Geburtstags Gustave Courbets schon einmal: Im Kommentar zur Ausstellung "Courbet und Deutschland" in Hamburg und Frankfurt a. M. 1979 schreibt Werner Hofmann, damals Direktor der Hamburger Kunsthalle, es sei zuvor die große Courbet-Retrospektive in Paris, danach in London gezeigt worden und folgert daraus: "Eine dritte Station - Hamburg - anzuschließen, war von Anfang an undenkbar, woraus sich der Anstoß ergab, unser Courbet-Projekt anders zu konzipieren [Hvh. v. Verfasser]". [1] Klaus Herding wiederum betitelt seinen Einführungsessay im aktuellen Katalog "Der »andere« Courbet".
Doch während Hofmann 1979 noch feststellen konnte, die "Pariser Kollegen" zeigten den "Meister von Ornans in monographischer Geschlossenheit [...], also die klassische Lösung", wohingegen sich in Deutschland "eine komplexe Ausstellungsstrategie" anböte [2], ist die Situation heute nicht mehr so übersichtlich, denn unterdessen sind "thirty years [of] diverse and often groundbreaking research and publications" [3] vergangen. Auch im Pariser Retrospektiven-Katalog Gustave Courbet wird der Realismus-Begriff in Frage gestellt [4] und Courbet als Vorreiter der Moderne analysiert. [5] Worin besteht also das Neue der Courbet-Rezeption im Katalog zur Frankfurter Ausstellung: Courbet. Ein Traum von der Moderne?
Ihr Leitmotiv ist das 'Träumerische' und wie Herding schreibt, die Wahrnehmung Courbets als "einer der großen Träumer der Geschichte". Damit widerspricht Herding der historischen Fixierung auf Courbets Rolle als dem Realismus verpflichteten "Verfechter einer sozial engagierten Kunst" (10). Die Verklammerung des 'Träumerischen' mit der 'Modernität' im genial einfachen und schillernd-assoziationsreichen Ausstellungstitel - man denke an die Bedeutung des Traums in Kunst und Literatur schon vor Sigmund Freud, an den Bezug Courbets zur deutschen und französischen Romantik, an Goyas "Traum von der Vernunft" [6] - versucht Herding an einer Stelle wörtlich zu nehmen: "Er [Courbet] träumt, in einer Art Wachtraum, von einem freien Menschen und einer freien zukünftigen Kunst [...]. Courbet träumt sich gleichsam hinein in das, was wir die Moderne des 20. Jahrhunderts nennen, tastet sich vor bis zu symbolistischen, surrealen, gegenstandsfreien Formen, ohne die Tragweite seines Schaffens ganz zu erfassen. Dieser Vorgang ist dem romantischen Begriff der Ahnung verwandt. Courbet erahnt, worin die Perspektiven einer freien, modernen Kunst liegen könnten." (11)
Das Wort "gleichsam" erhält hier ein besonderes Gewicht, kann sich der Rezensent doch des Eindrucks nicht erwehren, Courbets Werke würden zur Projektionsfläche eines nachgeborenen Kunsthistorikers, der mit Blick auf die Kunstgeschichte den 1877 verstorbenen Maler von Pablo Picasso (87) bis Willem de Kooning (94) 'träumen' lässt. So weit geht Herding in seinem Essay Courbet in der Kunst der Moderne und der Gegenwart allerdings nicht, sondern zeigt überzeugend (wenn auch in aller Kürze) an einer Auswahl von Künstlern nach Courbet, die sich größtenteils explizit auf ihn bezogen haben, mit welcher persönlichen Vorliebe und künstlerischen Intention dies geschah. Abstraktion "im Hinwegwischen der Farbe über die Gegenstandsgrenzen" (85) sowie das "collageartige Für-sich-Sein der Figuren Courbets" als prä-"surrealistische »Poesie des Disparaten«" (86) sieht Herding als Charakteristika seiner Malerei an. Den Aspekt des 'Träumerischen' im Anschluss an Courbet weist er an Werken Arnold Böcklins und Odilon Redons ebenso wie Chaim Soutines, Giorgio de Chiricos und Balthus' nach.
In allen weiteren Essays des Katalogs träumt der Künstler weniger von der "Moderne", als vielmehr von der "Natur" (Werner Hofmann zu Courbets Atelier des Malers), von der "Frau" als Akt (Michèle Haddad) und in Person von Pauline Pose in Die Dame auf der Terrasse (Bettina Erche), er träumt sich in Tiere hinein, so dass die Forellen im Stillleben und das Wild in den Jagdbildern den Charakter indirekter Selbstbildnisse annehmen (Gilbert Titeux), und er träumt lebenslang "von der Gerechtigkeit" (76) im sozialkritischen Sinn (Linda Nochlin). Mit der Darstellung von Träumerinnen und Träumern befassen sich Ulrich Pfarr (Introspektion als mimischer Ausdruck), Ségolène Le Men (Träumerinnen und Alpträumende in der Landschaft) und nur mittelbar zum Thema "Traum" schreiben Sylvain Amic / Florence Hudovicz (zu den übermalten Bildern in Courbets Die Badenden), James H. Rubin (zu Courbet und der Musik), Paul Galvez (zu Courbets Seelandschaften) und Margret Stuffmann (zum zeichnerischen Œuvre des Künstlers).
Dem Nicht-Kunsthistoriker mögen einige dieser Texte zu speziell und/oder ausführlich sein und er wird zunächst den Bildteil mit Werkkommentaren studieren. Er trifft auf kurze, prägnante Texte in verständlicher Sprache, feinsinnige und tiefgehende Betrachtungen werden in einladendem Layout und bester Reproduktionsqualität der Bilder geboten. Wen wundert's: Klaus Herding hat (teilweise in Zusammenarbeit mit Co-Autoren) die meisten der 80 Kommentare selbst verfasst und der Leser ahnt, dass sich der im Jahr 2005 an der Goethe-Universität Frankfurt emeritierte Professor für Kunstgeschichte, der seit knapp 40 Jahren zu Courbets Werken veröffentlicht [7], mit Ausstellung und Katalog selbst einen Traum erfüllt hat.
Werner Hofmann und Peter-Klaus Schuster hatten in ihrer Vorbemerkung zum Katalog der Gemälde der Ausstellung Courbet und Deutschland 1979 von Courbets "passiven Frauen" geschrieben und diese als "Verkörperung träumerisch versonnener Sinnlichkeit", zugleich aber auch "als Symbol einer Gesellschaftsschicht" und "als Gleichnis von Naturkräften" interpretiert. [8] Und auch Klaus Herding hat schon in den 1970er-Jahren auf Courbets träumerische Neigungen verwiesen, diese aber auch relativiert: "Courbet hätte sich nicht wenig später in der Commune engagiert, wäre es ihm bei aller kontemplativen Tagträumerei nicht auch um die Eroberung von Handlungsspielraum zu tun gewesen." [9]
Das "Ziel" Courbets, so Herding an anderer Stelle, "war die absolute Unabhängigkeit des einzelnen in einem republikanischen Staat, in dem auch die Kunst sich frei von institutioneller Reglementierung entfalten können sollte. Diese Leitvorstellung war weit genug, eine Schärfung des sozialen Bewußtseins ebenso in sich zu fassen wie individuelle Tagträumereien, Arbeit und Ruhe ebenso zu thematisieren wie die Eroberung der freien Natur und die Bewahrung der regionalen Autonomie gegenüber dem Bonapartismus." [10] So folgt entsprechend der "drei spezifischen Qualitäten Courbets": "Gesellschaftskritik, Abstraktion, Introspektion" (93) auf die Sozialkritik die Tagträumerei eines Malers, der zwischen Betrachtungsgegenstand und gemaltem Abbild um seine individuelle Freiheit kämpfte und deshalb heute als Wegbereiter der Moderne angesehen wird. Es ist das Verdienst Herdings, im Ausstellungskatalog Courbet. Ein Traum von der Moderne das Thema der Introspektion bei Courbet erstmals in seiner Breite dargestellt zu haben - mit wachem Blick auch für die Unschärfen kunsthistorischer Traumzustände.
Anmerkungen:
[1] Werner Hofmann: Zu dieser Ausstellung, in: Courbet und Deutschland, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 19.10.-17.12.1978, Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt am Main 17.1.-18.3.1979, Köln 1979, 615.
[2] Ebd.
[3] Laurence de Cars / Dominique de Font-Ráulx / Michel Hilaire / Gary Tinterow: Introduction, in: Gustave Courbet, Ausst.-Kat. The Metropolitan Museum of Art, New York 27.2.-18.05.2008, Ostfildern 2008, 15.
[4] Vgl. den Essay von Dominique de Font-Ráulx: Realism and abiguity in the paintings of Gustave Courbet, ebd. 30-43.
[5] Vgl. den Essay von Laurence de Cars: A legacy of truth: The reference to Courbet, from Manet and Cézanne, ebd. 58-69.
[6] Vgl. Helmut C. Jacobs: Der Schlaf der Vernunft. Goyas Capricho 43 in Bildkunst, Literatur und Musik, Basel 2006.
[7] Vgl. die Bibliografie Herdings auf der Homepage der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt: http://web.uni-frankfurt.de/fb09/kunst/mitarbeiter/herding/herding_schriften.htm [abgerufen am 9.3.2011].
[8] Werner Hofmann / Peter-Klaus Schuster: Vorbemerkung [zum Katalog der Gemälde], in: Courbet und Deutschland, Köln 1979, 190.
[9] Klaus Herding: Die Lust, aus Gegensätzen eine Welt zu bauen. Courbet als Zeichner, in: Klaus Herding / Katharina Schmidt (Hgg.): Les voyages secrets de Monsieur Courbet. Unbekannte Reiseskizzen aus Baden, Spa und Biarritz, Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle Baden-Baden 15.1.-11.3.1984 und Kunsthaus Zürich 13.4.-10.6.1984., Baden-Baden 1984, 48.
[10] Klaus Herding: Courbets Anspruch. Der Meistermaler über sich selbst, in: Klaus Herding (Hg.): Realismus als Widerspruch. Die Wirklichkeit in Courbets Malerei, Frankfurt am Main 1978, 21.
Marvin Altner