Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann (Hgg.): Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, 3. Auflage, München: Karl Blessing Verlag 2010, 880 S., ISBN 978-3-89667-430-2, EUR 34,95
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Die Tage vor und die Wochen nach dem Erscheinen der Studie der Historikerkommission zur Erforschung der Rolle des Auswärtigen Amts (AA) im 'Dritten Reich' waren von einer intensiven medialen Debatte geprägt, die teilweise verwunderliche Formen annahm. Nunmehr beginnt aber die wissenschaftliche Diskussion über das Buch. Damit ist die Zeit gekommen, die Ausführungen zu prüfen und zu einem ausgewogenen und differenzierten Urteil darüber zu gelangen, welchen Beitrag die Studie zur Erforschung der Geschichte des AA leistet.
Die aktuelle Debatte über den Anteil des Ministeriums an den Verbrechen des Dritten Reichs belegt, dass die Forschungsergebnisse der vergangenen dreißig Jahre trotz intensiver fachlicher Diskussion der breiten Öffentlichkeit nicht ausreichend kommuniziert wurden. [1] Hier muss sich die Historikerzunft fragen, weshalb dies nicht gelungen ist. Ein Verdienst der Studie besteht also darin, eine öffentliche Debatte initiiert zu haben. Von hoher Relevanz ist außerdem, dass die Historikerkommission die Frage der Kontinuitäten im AA vor und nach 1945 aufwirft. Hier kann die Studie wichtige Antworten geben.
Es fällt jedoch auf, dass die Historikerkommission die Rolle des AA im 'Dritten Reich' untersucht und gleichzeitig das zentrale Betätigungsfeld des Ministeriums, die Außenpolitik, fast völlig vernachlässigt. Dafür wird insbesondere die Beteiligung des Ministeriums an der Judenverfolgung in den Mittelpunkt gerückt. Doch auch dies geschieht nicht systematisch. Die Rolle des AA bei der Entstehung und Umsetzung der Rassengesetzgebung wird nur beiläufig gestreift. Auch andere Fragen werden weitgehend außer Acht gelassen: Welche Haltung nahm das AA zur "Arisierung" des Eigentums von ausländischen Juden ein? Wie stand das Ministerium zur Auswanderung der Juden aus Deutschland? Bei diesen Punkten handelt es sich um die zentralen Aspekte der staatlichen "Judenpolitik" bis Kriegsbeginn, die aber in der Studie nur am Rande vorkommen. Selbst die Rechtfertigung der deutschen antisemitischen Gesetzgebung gegenüber dem Ausland - mithin derjenige Bereich der "Judenpolitik", für den das Amt federführend zuständig war - wird nur mit einzelnen Beispielen für das Jahr 1933 angedeutet.
Die institutionelle Entwicklung des AA zwischen 1933 und 1945 wird nur sehr knapp beschrieben. Eine Einordnung in den Kontext des Auflösungsprozesses der traditionellen Verwaltung in NS-Deutschland unterbleibt. Zugleich werden die Amtsperioden der Außenminister Neurath und Ribbentrop als kaum voneinander differierend angesehen. Dieses Ergebnis erklärt sich auch dadurch, dass die Amtsübernahme Ribbentrops 1938 nur punktuell untersucht und hier kein zentraler Bruch konstatiert wird. Bezieht man jedoch einen längeren Zeitraum ein - so etwa die Jahre 1935 bis 1940 - so zeigt sich deutlich, wie das Ministerium durch Seiteneinsteiger und immer stärker nationalsozialistisch geprägte Attachéjahrgänge in seinem Charakter verändert wurde. Die Historikerkommission stößt zwar immer wieder auf diese Veränderungen (etwa 92-94, 99, 112-119, 126-129, 138 etc.), doch werden diese in keinen Gesamtzusammenhang gestellt. Damit wird zugleich ein Grundproblem der Studie deutlich: An vielen Stellen werden wichtige Ergebnisse referiert, ohne dass es gelingt, die Einzelbefunde in einen Kontext einzuordnen. Das wirft die Frage auf, ob eine wissenschaftlich sinnvolle Untersuchung mit einem größeren Mitarbeiterstab überhaupt möglich ist. Ergiebiger wäre vielleicht eine Aufteilung des Themas in verschiedene Einzelstudien gewesen.
In der Studie erscheint das Ministerium als einer der zentralen Akteure in der "Judenpolitik". Diesen Schluss kann man nur ziehen, wenn man die institutionellen Gegebenheiten im 'Dritten Reich' außer Acht lässt. Während in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre das Innen- und Justizministerium die Federführung in der "Judenfrage" innehatten, dominierte seit 1939 insbesondere das Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Das AA war allerdings sehr weitgehend in die Judenverfolgung involviert. So verhandelte das Ministerium etwa mit bestimmten ausländischen Regierungen, um die Deportation von deren jüdischen Staatsangehörigen in den von Deutschland besetzten Gebieten vornehmen zu können. Diese direkte Beteiligung an den NS-Verbrechen darf nicht beschönigt werden. Einer der zentralen Akteure des Holocaust war das AA dennoch nicht. Wenn von der Kommission die These aufgestellt wird, das Ministerium sei an der Entscheidung zum Holocaust "direkt beteiligt" (185) gewesen, verschlägt es dem Forscher die Sprache. Als Beleg wird eine Unterredung zwischen Hitler und Ribbentrop am 17. September 1941 angeführt, obwohl wir über den Gesprächsinhalt nichts wissen. Hitler hätte die Entscheidung zum Holocaust keinesfalls mit einem zweitrangigen Minister wie Ribbentrop getroffen. Hierfür wären eher Goebbels, Göring oder Himmler prädestiniert gewesen. Das AA war im NS-Herrschaftssystem ein nachrangiger Akteur und ist daher nicht mit den in dieser Frage zentralen Institutionen wie dem RSHA und der Parteikanzlei zu vergleichen.
Verwunderung löst auch der Versuch aus, das Ministerium im Januar 1939 als Initiator der Ermordung der Juden darzustellen. So wird ein Satz aus einem Runderlass des AA-'Judenreferenten' Schumburg als Beweis dafür gesehen, das Auswärtige Amt habe bereits damals die "physische Vernichtung" (174) der Juden angestrebt. Schumburg schrieb: "Auch für Deutschland wird die Judenfrage nicht ihre Erledigung gefunden haben, wenn der letzte Jude deutschen Boden verlassen hat." Zieht man das Originaldokument zu Rate, so kann von einer Aufforderung zur "physischen Vernichtung" keine Rede sein. Schumburg war der Ansicht, dass die Juden selbst nach ihrer Auswanderung eine "Gefahr" für Deutschland, aber auch für die Einwanderungsländer darstellen würden. Aus diesem Grunde plädierte er für eine "internationale Lösung der Judenfrage". Er dachte dabei wohl an die Einberufung einer internationalen Konferenz, um eine Art Abkommen zum "Schutz" der Staatengemeinschaft vor den Juden zu schließen. [2] An dieser Stelle kann nur noch einmal dafür plädiert werden, angesichts der Sensibilität des Themas besondere Sorgfalt bei der Quellenarbeit walten zu lassen. Echte und nachhaltige Aufklärung über die Verfolgung der Juden wird nur dann erzielt, wenn wissenschaftlich tadellos gearbeitet wird und Pauschalisierungen vermieden werden.
Nur so lassen sich auch ärgerliche Fehler vermeiden, wie sie in der Studie überdurchschnittlich häufig anzutreffen sind. Es zeigt etwa eine weitgehende Unkenntnis über die Institution AA, wenn das Deutsche Reich plötzlich über Gesandtschaften, Generalkonsulate und Konsulate I. Klasse verfügt (63). Hier werden Auslandsvertretungen mit den dort tätigen Amtsträgern verwechselt. Welches Land wollte auch mit einer Gesandtschaft abgespeist werden, wenn es Gesandtschaften I. Klasse gäbe? An gleicher Stelle heißt es, Botschafter stünden im Rang zwischen Ministerialdirektoren und Staatssekretären. Hier ist einerseits der Unterschied zwischen Amts- und Funktionsbezeichnungen unbekannt, zudem fehlt ein tiefer gehendes Wissen über die unterschiedlichen Laufbahnbezeichnungen in der Zentrale und den Auslandsvertretungen. Derartige Fehler finden sich in großen Mengen. Diese werden noch durch vielfach fehlende oder im Verlauf der Überarbeitung versehentlich gelöschte oder verschobene Fußnoten ergänzt.
Die Studie der Historikerkommission wirft viele wichtige Fragen auf, insbesondere nach dem individuellen Mitwirken von Diplomaten an NS-Verbrechen. So wird etwa der Versuch unternommen, Zahlenmaterial hinsichtlich der Mitgliedschaft in NSDAP, SA und SS zu liefern. Hier haben sich - das ergibt eine erste Sichtung - leider einige Fehler eingeschlichen, was von der Forschung aber noch genauer geprüft werden sollte. Insgesamt kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass NS-belastete Diplomaten "in den Kernabteilungen der traditionellen Bürokratie" in geringerer Zahl auftraten, vor allem habe es dort wenig "alte Kämpfer" gegeben (159). Eine sehr richtige Beobachtung, doch leider werden nicht die notwendigen weiteren Überlegungen angestellt. Was bedeutete es denn, wenn sich die ideologische Prägung der Mitarbeiter in den traditionellen Abteilungen (Politik, Recht, Wirtschaft) etwa von der für die "Judenfrage" zuständigen Abteilung Deutschland unterschied? In keinem einzigen Fall wird von der Historikerkommission systematisch untersucht, welche Positionen die einzelnen Abteilungen in den unterschiedlichen Fragen der "Judenpolitik" einnahmen. Letztlich wird allein die Haltung der Abteilung Deutschland referiert und unbesehen auf das gesamte Amt übertragen. Damit macht es sich die Historikerkommission allzu leicht. Hinzu kommt, dass als Quellengrundlage für das Holocaust-Kapitel allein Akten aus der Abteilung Deutschland/Referatsgruppe Inland dienen. Die Bestände der gleichfalls beteiligten Politischen Abteilung bzw. der Rechtsabteilung werden komplett ignoriert. Eine Einbeziehung dieser Akten hätte eine wertvolle Binnendifferenzierung innerhalb des AA und damit eine ausgewogene Interpretation des Ministeriums im Einklang mit dem aktuellen Stand der Forschung ermöglicht.
Die Auswahl der untersuchten Archive erklärt die begrenzte Quellengrundlage. So ist es völlig unverständlich, dass für das Holocaust-Kapitel das Politische Archiv des Auswärtigen Amts beinahe nicht herangezogen wurde. In den ersten 100 Fußnoten des Kapitels werden lediglich viermal Dokumente des Politischen Archivs zitiert. Stattdessen stützen sich die Autoren auf eine selektive Kopiensammlung in Yad Vashem. Die Aufgabe dieser Institution ist es aber nicht, die Arbeit des AA zu dokumentieren, sondern Unterlagen zur Judenverfolgung in Europa zu sammeln. Es ist durchaus üblich, die Kopien aus Yad Vashem als Ergänzung hinzuzuziehen. Befremdlich ist aber, die Geschichte einer Institution zu schreiben, ohne systematisch deren originalen Aktenbestand einzusehen. Damit erklären sich die vielfachen Fehlinterpretationen in diesem Kapitel, das bedauerlicherweise den qualitativen Tiefpunkt der Studie darstellt, sowie das Versäumnis, die Dokumente in einen Verwaltungsvorgang einzuordnen. Aus einzelnen Kopien kann eben kein historischer Kontext konstruiert werden.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Historikerkommission eine wertvolle Debatte zur Rolle des AA im 'Dritten Reich' entfacht hat. Gerade auch die Untersuchung der Kontinuität vor und nach 1945 stellt einen wichtigen Beitrag dar. Doch beschränkt sich selbst diese zu sehr auf eine weitgehend additive Aneinanderreihung von Einzeldaten. Eine systematische Analyse, die eine Kategorisierung in bestimmte Gruppen von Diplomaten vornimmt und zu klaren Ergebnissen über den Transformationsprozess der NS-Eliten in der Bundesrepublik gelangt, wird nicht vorgelegt. So bietet auch dieser Abschnitt bisher nur einen Steinbruch für zukünftige Forschungen. Die Studie ist weitgehend in den wertvollen Ansätzen stecken geblieben. Der Grund hierfür liegt wohl vor allem in dem extrem knapp bemessenen Zeitbudget der Historikerkommission. So erklärt sich auch die unsystematische Archivrecherche, die weite Teile der AA-Überlieferung außen vor lässt. Ebenso wird verständlich, weshalb die Studie vielfach nur Detailinformationen aneinander reiht, ohne eine schlüssige Analyse und Interpretation zu liefern. Eine Einordnung der Ergebnisse in einen Gesamtzusammenhang findet nicht statt. Wirklich gewinnbringende Forschungsergebnisse lassen sich bei einem derart komplexen Thema innerhalb von vier Jahren nur schwerlich vorlegen. Zukünftige staatliche Aufträge zur Untersuchung der NS-Vergangenheit sollten das berücksichtigen - gute Analysen benötigen schließlich Zeit, um sich zu entwickeln.
Anmerkungen:
[1] Vgl. grundlegend: Christopher R. Browning: The Final Solution and the German Foreign Office. A Study of Referat D III of Abteilung Deutschland 1940-1943, New York 1978 (deutsch: Die "Endlösung" und das Auswärtige Amt. Das Referat D III der Abteilung Deutschland 1940-1943, Darmstadt 2010); Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der "Endlösung", Berlin 1987. Vgl. als jüngste Forschungsbeiträge: Sebastian Weitkamp: Braune Diplomaten. Horst Wagner und Eberhard von Thadden als Funktionäre der "Endlösung", Bonn 2008; Michael Mayer: Staaten als Täter. Ministerialbürokratie und "Judenpolitik" in NS-Deutschland und Vichy-Frankreich. Ein Vergleich, München 2010. Diese jüngsten Studien, die eine vielschichtige Binnendifferenzierung des AA vornehmen, wurden beide von der Friedrich-Ebert-Stiftung finanziert. Im wissenschaftlichen Bereich kann also nicht von einer Frontstellung zwischen vermeintlich konservativen und nicht-konservativen Historikern gesprochen werden.
[2] Vgl. Bundesarchiv, R 43/II/1400, Bl. 57, oder Institut für Zeitgeschichte, NG 1793.
Michael Mayer