Almut Hillebrand: Danzig und die Kaufmannschaft großbritannischer Nation. Rahmenbedingungen, Formen und Medien eines englischen Kulturtransfers im Ostseeraum des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009, 378 S., ISBN 978-3-631-58259-6, EUR 56,50
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Die Dissertation ist am vormaligen Greifswalder Graduiertenkolleg 'Kontaktzone Mare Balticum: Fremdheit und Integration im Ostseeraum' entstanden. Ihr Titel zeigt die Einschlägigkeit für den Kontext der historischen Kulturtransferforschung, die das Greifswalder Kolleg methodisch aufgenommen und vorangetrieben hat. Er formuliert prägnant das Erkenntnisziel der Arbeit, die sich als "Fallstudie" (15) versteht. Ihr Augenmerk richtet sich auf die Rolle der britischen Kaufmannskolonie in Danzig, beginnend mit dem Abschluss des Handelsvertrages von 1706, endend mit der Besetzung der Stadt durch die napoleonischen Truppen.
Mit großem Aufwand nähert sich die Autorin ihrem Gegenstand an. Das Einleitungskapitel umfasst mehr als 60 der insgesamt circa 340 Textseiten. Ein erheblicher Teil davon ist der "Traditionskritik" gewidmet. Etwas schlichter würde man es Forschungsbericht nennen. Es folgen die Skizze der methodischen Basis und die Entwicklung der Fragestellung. In Anlehnung an das neuerdings wesentlich von Matthias Middell gestaltete Kulturtransferkonzept "wird die umfassende Verflechtung heterogener Faktoren im Transfer veranschaulicht, ausgehend von der Annahme, dass die Begegnung zweier Kulturräume [...] alle Seiten der menschlichen Kommunikation ansprechen kann" (55). Präzise umreißt Hillebrand die Kernmerkmale des Kulturtransferkonzeptes mit der für ihr Vorgehen wesentlichen Schlussfolgerung, dass der Fokus "konsequent auf die Aufnahmekultur und die dort existierende 'Konjunktur von Rezeptionsbedürfnissen'" ausgerichtet sei (57). Anschließend formuliert sie vier Problemstellungen (62f.), die ihre Untersuchung gliedern. Zunächst gelte es, die "primären Begegnungsfelder" zwischen Danziger Bürgern und Briten aufzuarbeiten, deren "Dreh- und Angelpunkt" der Handel gewesen sei. Zweitens forscht sie nach den "tatsächlichen Trägern, Mittlerpersonen und Protagonisten eines englischen Kulturtransfers" und drittens nach dessen "Inhalten und spezifischen Merkmalen". Schließlich solle auf der Basis der Fallstudie eine "theoretische Weiterentwicklung und Revision des Kulturtransferkonzeptes erfolgen". Wohlausgestattet mit methodologischem Rüstzeug und solider Literaturkenntnis geht Hillebrand an die Arbeit mit den Quellen. Dazu gehört umfängliches Danziger Archivmaterial zu Politik und Wirtschaft. Vor allem aber wird die zeitgenössische Danziger Publizistik ausgewertet, voran das Intelligenzblatt Wöchentliche Danziger Anzeigen.
Der Hauptteil der Untersuchung besteht aus zwei Großkapiteln. Das erste widmet sich auf mehr als 140 Seiten den sogenannten primären Begegnungsfeldern Handelsdiplomatie, Handelsverkehr, Familie und Gemeinde. Hillebrand bezeichnet sie im Kapiteltitel als "potentielle Ausgangspunkte eines unmittelbaren und unbewussten Kulturtransfers" (81). Auf den ersten 70 Seiten werden Genese, Inhalt, politischer Kontext und unmittelbare Wirkung des Handelsvertrages von 1706 kenntnisreich analysiert. Überzeugend ist die Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Teils dort, wo deutlich gemacht wird, dass und wie die britische Kaufmannschaft es verstand, eigene "Marktzugangs- und Marktorganisationsvorstellungen" (150) durchzusetzen. Ich halte es jedoch für fraglich, ob es die Forschung weiterführt, wenn die Autorin dies als "unbewussten Prozess des Kulturtransfers" qualifiziert (152). Auf den folgenden gut 70 Seiten soll der "Handel als Voraussetzung und Rahmenbedingung von Kulturtransfer" (154) Konturen erhalten. Die Quellenauswertung erfolgt unter genuin wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen zur Im- und Exportentwicklung in Danzig, zum britischen Warenspektrum und zur Rolle der Stadt für den britischen Gesamthandel. Auch hier überzeugen die konkreten Resultate. Das Eindringen britischer Waren in das Alltagsleben der Danziger sowie die Positionierung herausgehobener Vertreter der britischen Kaufmannschaft dokumentieren die besondere Bedeutung des Britischen für die Stadt. Zu Recht stellt Hillebrand jedoch fest, dass dies noch nicht "mit einem Kulturtransfer gleichgesetzt" werden könne. Dazu bedürfe es vielmehr "einer bewussten und medial gestützten Verbreitung englischer Kulturinhalte" (228). Die Argumentation Hillebrands ist nicht widerspruchsfrei, wenn sie Phänomenen, die sie einerseits als zum "unbewussten Prozess des Kulturtransfers" gehörig klassifiziert, andererseits die Qualität des Kulturtransfers abspricht. Hier zeigt sich ein sehr deutlicher Mangel in der Präzision des Umgangs mit dem Kernbegriff der gesamten Untersuchung.
Das zweite Großkapitel des Hauptteiles (229-350) lässt einen sehr viel dichteren Bezug zum Thema Kulturtransfer erkennen. Es trägt den Titel "Mediale Begegnungsfelder als Ausgangspunkte für mittelbaren und bewussten Kulturtransfer". Zunächst untersucht die Autorin in sinnvoller Anlehnung an Jürgen Habermas' klassisches Interpretament der bürgerlichen Öffentlichkeit vor allem die publizistische Tätigkeit des britisch stämmigen reformierten Geistlichen Samuel Wilhelm Turner, der als Übersetzer und Autor in Danziger Zeitschriften ab 1771 für zwei Jahrzehnte wesentlichen Anteil an "einer anglophilen Propaganda" (256) besaß, die im Inselreich die Verkörperung von Aufklärung, Bürgerfreiheit und Fortschritt sah. Auch hier wieder eine saubere Quellenanalyse, die in der Tat zeigt, dass und wie über Turners Arbeiten "gelebter Kulturtransfer auf Alltagsebene" (307) funktionierte. Die Antwort auf die Frage, wie tief dieser in die Identifikationsmuster des Danziger Bürgertums eingriff, ist damit freilich noch nicht gefunden. Sie sucht Hillebrand in den autobiographischen Überlieferungen und populärwissenschaftlichem Schrifttum dreier Danziger Bürger, die im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert sich in je unterschiedlichem Zuschnitt Inhalten und Werten der von ihnen in einer Leitfunktion anerkannten englischen (oder britischen? - England, Schottland und Großbritannien werden im gesamten Text leider munter durcheinander gewürfelt) Kultur zuwandten. Auch das hier entfaltete Material wird im Detail originell interpretiert. Es bleibt jedoch von begrenzter Aussagekraft. Zwar zeigen sich in der Tat bei den drei Protagonisten explizite Anlehnungen an englisch-britische Politik- und Gesellschaftsmodelle. Die Frage nach der Repräsentativität für das Kulturmuster der Danziger Eliten und damit nach der Relevanz des englischen bzw. britischen Kulturtransfers für die Selbstpositionierung dieser Eliten im eigenen politischen und gesellschaftlichen Umfeld stellt sich jedoch und ist meines Erachtens skeptisch zu beantworten.
Hillebrands Arbeit hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits bietet sie präzise und quellennahe Analysen zu den ökonomischen Beziehungen zwischen Großbritannien und Danzig im 18. Jahrhundert sowie zur damit verbundenen Medien- und Kommunikationsgeschichte. Hier bereichert sie die Forschung erfreulich deutlich. Auch Aspekte des Kulturtransfers werden im zweiten Hauptkapitel herausgearbeitet. Die Ergebnisse in diesem Bereich bleiben jedoch punktuell. Um, wie in der Einleitung angekündigt, "eine Aufarbeitung der Beziehungen Danzigs und Großbritanniens im 18. Jahrhundert zu leisten" (15), erweist sich die Reichweite des hier durchgespielten Kulturtransferkonzepts als nicht groß genug.
Olaf Mörke