Simona Boscani Leoni (Hg.): Wissenschaft - Berge - Ideologien. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung, Basel: Schwabe 2010, 352 S., ISBN 978-3-7965-2591-9, EUR 41,00
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Simona Boscani Leoni / Martin Stuber (Hgg.): Wer das Gras wachsen hört. Wissensgeschichte(n) der pflanzlichen Ressourcen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Innsbruck: StudienVerlag 2017
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Mit seiner Vielfalt von Themen und Problemgeschichten entspricht dieser Sammelband dem breitgefächerten Wirken des Schweizer Arztes, Naturforschers und Mathematikers Johann Jakob Scheuchzer. Auch sein wissenschaftliches Werk war auf Universalität und Methodenpluralität angelegt und gipfelte in einer Physica Sacra (1731-1735), das heißt einer Darstellung, Erklärung und Interpretation möglichst aller naturkundlichen Realien, die im Alten und Neuen Testament erwähnt werden.
Der vorliegende Band enthält die Beiträge zu einer Tagung mit dem Titel "Wissenschaft - Berge - Ideologien. Johann Jakob Scheuchzer und seine Zeit", die im April 2007 auf dem Monte Verità bei Ascona stattgefunden hat. Als thematischer Kristallisationskeim diente dabei ein von Scheuchzer 1699 publizierter Fragebogen, mit dem er seine Schweizer Landsleute - neben den Gelehrten auch die gebildeten und interessierten Laien - aufforderte, sich durch eigene Beobachtungen und Datensammlungen an der Erforschung der helvetischen Naturgeschichte zu beteiligen. In diesem "Einladungsbrief" sind wesentliche Elemente enthalten, die für Scheuchzers Wissenschafts- und Forschungsverständnis - und darüber hinaus für die gesamte physico-theologisch orientierte Naturforschung - charakteristisch sind. Eines dieser Wesensmerkmale ist die Konzentration auf ein überschaubares, wohldefiniertes geographisches Gebiet: in diesem Fall ist es Scheuchzers Heimat, die Alpenregion, die als Thema einer systematischen und methodischen Erforschung im 17. Jahrhundert erst entdeckt wurde. Zwar existierten für diese Region bereits wichtige Vorarbeiten, die im 16. Jahrhundert von bedeutenden Gelehrten wie Conrad Gesner, Josias Simler oder Johannes Stumpf geleistet worden waren, aber eine wirklich verifizierbare empirische Forschung begann erst im Zeitalter der Physico-Theologie, zu deren wichtigsten Protagonisten Scheuchzer gehört. Insbesondere der Beitrag von Thomas Maissen ("Die Bedeutung der Alpen für die Schweizer Geschichte von Albrecht von Bonstetten bis Johann Jakob Scheuchzer") erhellt, dass Scheuchzer seine Forschungen nicht ex nihilo begann, sondern sich auf eine Reihe von Wegbereitern, darunter seinen Zürcher Lehrer und Amtvorgänger als Waisenhausarzt, Johann Jakob Wagner (1641-1695), stützen konnte. Wagner, der ebenso wie später Scheuchzer ein beobachtender und sammelnder Naturforscher war, hatte 1680 eine von Francis Bacon inspirierte Historia naturalis Helvetiae curiosa publiziert. Aufgeklärte, aber ungebrochene Frömmigkeit, wissenschaftliche Neugier und ein durchaus kritisches Bewusstsein verbanden sich hier zu einem Amalgam, das auch zur Grundlage von Scheuchzers Forschungen werden sollte.
Der Beziehung von Wissenschaft und Gebirgslandschaft am Beispiel der Alpenregion ist ein zweiter Teil des Sammelbandes gewidmet, der thematisch und zeitlich weit über Scheuchzer hinausreicht. Einerseits wird Scheuchzers Rolle und Bedeutung in einem größeren historischen Kontext besser verständlich, andererseits erfährt das Thema damit eine derartige Ausweitung, dass Unschärfen und Inkongruenzen der teilweise recht disparaten Beiträge nicht ausbleiben konnten. Noch am deutlichsten ist der Bezug zu Scheuchzer in einem Beitrag von Hubert Steinke und Martin Stuber ("Hallers Alpen - Kontinuität und Abgrenzung"), die am Beispiel des "Alpengedichts" und eines Bibelkommentars von Albrecht von Haller zeigen, dass es neben dem physico-theologischen Ansatz Scheuchzers noch andere, konkurrierende Wissenschaftskonzepte gab. Andererseits existierte auch eine Abhängigkeit Hallers von Scheuchzer hinsichtlich des empirischen Materials. Da Hallers eigene Reisen ihn nur in wenige ausgewählte Gebiete der Schweiz führten, war er darauf angewiesen, die von Scheuchzer gesammelten botanischen Informationen in seine "Schweizer Flora" einzuarbeiten.
Am Ende des zweiten Teils des Sammelbandes wird die Perspektive mit einem Beitrag von Alessandro Pastore ("Natura, scienza e pratica sportiva nell'alpinismo italiano del secondo Ottocento") bis ins frühe 20. Jahrhundert ausgedehnt. Hier ist ein Zusammenhang mit der Scheuchzer-Forschung kaum mehr erkennbar. Auch die geologischen Forschungsreisen des wesentlich späteren Jean André Deluc (1727-1817), die Marita Hübner als Teil der protestantischen Erinnerungskultur beschreibt, haben mit Scheuchzer allenfalls ein vergleichbares "Sintflut"-Verständnis gemein. Dem stehen Beiträge von Robert Felfe, Urs B. Leu und Monika Gisler im ersten Teil des Sammelbandes gegenüber, die das Bild Scheuchzers durch eine Reihe neuer und anders gesehener Aspekte vertiefen und verdeutlichen. Von besonderem Interesses sind die Beiträge von Michael Kempe und Guy P. Marchal, die Scheuchzer innerhalb der politischen Geschichte der Schweiz verorten und seine im Verlauf seines Lebens immer kritischer werdende Haltung gegenüber der Züricher Obrigkeit anhand neuer Quellen belegen. Eine Betrachtung der philosophischen und theologischen Vorgeschichte der Physico-Theologie, beispielsweise durch eine Berücksichtigung der Werke von Justus Lipsius und Johann Christoph Sturm, die für Scheuchzers Ideengebäude konstituierend waren, erfolgt nur in einem Beitrag - dem kenntnisreichen Aufsatz von Paolo Giacomini: "La teologia naturale di Johann Jakob Scheuchzer". Giacomini fasst hier im Wesentlichen die Erkenntnisse der neueren Scheuchzer-Forschung, insbesondere die der Monographien von Irmgard Müsch und Robert Felfe, zusammen.
Generell ist es überraschend, wie viele Themenbereiche die Scheuchzer-Forschung inzwischen erfasst hat. Das hängt zweifellos mit den aktuellen Tendenzen der Geschichtsschreibung zusammen, die Themen der Wissenschaftsgeschichte mit einer tiefer gehenden Diskussion ikonographischer Fragen und der Erforschung der Formen frühneuzeitlicher Wissenschaftskommunikation verbindet.
Der Wert dieses Sammelbandes, der ihn für alle an Johann Jakob Scheuchzer Interessierten empfehlenswert macht, liegt zweifelsohne in einigen gut recherchierten Einzelbeiträgen, wie denen von Robert Felfe oder Michael Kempe, die neues Quellenmaterial analysieren und interpretieren. Die Übersichtsbeiträge referieren demgegenüber hauptsächlich die schon bekannten Forschungspositionen.
Andreas Kühne