Katja Frehland-Wildeboer: Treue Freunde? Das Bündnis in Europa 1714-1914 (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 25), München: Oldenbourg 2010, 476 S., ISBN 978-3-486-59652-6, EUR 64,80
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Diese in Heidelberg eingereichte Dissertation thematisiert die Entwicklung des europäischen Bündniswesens im Hinblick auf die "Idee und Realität von Bündnissen in der Geschichte Europas" aus der Perspektive der beteiligten Akteure. Neben den inhaltlichen und formellen Aspekten der zwischen 1714 und 1914 geschlossenen Bündnisverträgen geht die Autorin somit der Frage nach, welche "Verhaltensdispositionen" und "Einstellungen" die europäischen Potentaten dem außenpolitischen Instrument des Bündnisvertrags entgegengebracht und inwiefern sich diese Dispositionen über die Jahrhunderte hinweg entwickelt haben (20).
Im Kontext der in Deutschland wieder intensiver betriebenen Forschung zur historischen Entwicklung der internationalen Beziehungen verfolgt die Autorin somit eine mentalitätsgeschichtliche Aufarbeitung eines außenpolitischen Instruments - des Bündnisschlusses und Bündnisvertrags -, das in der Tat in der Forschung bisher wenig bis gar keine Beachtung gefunden hat (20). Nicht zuletzt soll an diesem Gegenstand die These Paul W. Schroeders hinterfragt werden, nach der es ab 1815 zu einer "grundlegenden Transformation der Spielregeln der internationalen Politik in Europa" gekommen sei (17).
Die Arbeit ist klar strukturiert. Die Autorin teilt den recht ambitionierten Zeitrahmen von 200 Jahren in sechs Kapitel auf: Kapitel I behandelt die Epoche nach dem Friedenskongress von Utrecht (1714-1739), Kapitel II die Epoche Friedrich des Großen (1740-1788), Kapitel III die der Französischen Revolution und Napoleons (1789-1814), Kapitel IV die Epoche nach dem Wiener Kongress (1815-1849), Kapitel V die Epoche Bismarcks (1850-1889). Kapitel VI schließt den Zeitrahmen mit der Epoche vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ab (1890-1914). Jedes dieser Kapitel folgt einer gleichen Aufteilung. In einem ersten Abschnitt verortet die Autorin die Bündnisverträge in ihrem breiteren historischen Zusammenhang. Im zweiten Abschnitt folgt eine Untersuchung der Form und des Inhalts der Verträge. Dabei analysiert und vergleicht die Autorin die Hauptanliegen, Kernaussagen und Vokabulare der relevanten Vertragstexte, etwa ihre Absicherung durch Bezüge auf "ewige Freundschaft", "gemeinsame Interessen", oder ähnliches. Im darauf folgenden Abschnitt werden in einem zusammenfassenden Überblick die Bündnisverständnisse der beteiligten Akteure schließlich im Hinblick auf ihre historische Kontinuität oder Wandel charakterisiert.
Im ersten Kapitel identifiziert die Autorin einen untersuchungsleitenden "Idealtypus" des Bündnisvertrags zwischen 1714-1739. Diese formellen Standardisierungen deutet die Autorin als "fortschreitende Vereinheitlichung des europäischen Bündniswesens besonders in Form und Struktur" (83). Im Hinblick auf das Bündnisverständnis der Akteure hält die Autorin für das erste Kapitel fest, dass das Bündnis zwar als unverzichtbares außenpolitisches Instrument zur Wahrung des Friedens betrachtet wird, ihm gleichzeitig jedoch ein relativ geringer Wert zugeschrieben wird.
Vor dieser Schablone werden die weiteren historischen Epochen charakterisiert. So konstatiert die Autorin für die Epoche Friedrichs des Großen (1740-1788) eine weitergehende Tendenz zur Vereinheitlichung der europäischen Bündnisverträge sowie ein weiter bestehendes Grundmissvertrauen gegenüber dem Bündnis, das sich unter anderem auch an weitreichenderen Bemühungen um Absicherung der Verträge äußert. Für die Epoche der Französischen Revolution und Napoleons stellt die Autorin ab etwa 1796 jedoch eine deutliche Zäsur fest. Hier sei ein "Auseinanderfallen des Bündniswesens in formaler wie auch inhaltlicher Hinsicht" zu beobachten (227), denn neben den "idealtypischen" Verträgen werden nach dieser Zäsur in Reaktion auf die französische Herausforderung zunehmend deutlich lockerere Bündnisse geschlossen.
Eine weitere deutliche Zäsur im europäischen Bündniswesen erkennt die Autorin hingegen in der Epoche nach dem Wiener Kongress (1815-1849). Zunächst sei eine erkennbare Tendenz zu wieder festeren und eindeutigeren Bündnisschlüssen zu erkennen, ohne jedoch wieder an den "Idealtypus" des späten 18. Jahrhunderts anzuknüpfen, der "tatsächlich überholt scheint" (285). Die neue Qualität der Bündnisverträge in dieser Epoche äußere sich vor allem in der erkennbaren Multilateralisierung des Vertragswesens. Die Autorin stimmt somit Paul W. Schroeders These insofern zu, als dass es nach dieser Epoche nicht zu einer Wiederherstellung des alten (machtpolitischen) Prinzips der balance of power gekommen sei. Ein Verständnis von einer eher rechtlich gedeuteten, politischen Balance sei in den Verträgen jedoch nicht nachzuweisen, da der Begriff des "Aequilibriums" in den Bündnisverträgen von 1815-1818 schlichtweg fehlt (288). Erkennbar deute sich jedoch in dieser Epoche die Aufteilung des Bündniswesens in (geopolitische) Blöcke an, die sich in der Folge weiter verfestigen sollte. Das Scheitern der Allianzen von 1854 führe indes dazu, dass der Bündnisschluss "für fast 20 Jahre aus dem außenpolitischen Instrumentarium der europäischen Großmächte verbannt" werde (346).
Für die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges konstatiert die Autorin die weitere Verfestigung der seit 1815 sich andeutenden Bündnisblöcke, die nunmehr seit 1890 "manifest" sei (394). Dabei ließen sich vor allem informelle von formellen Bündnissen unterscheiden, wobei sich die insbesondere durch Großbritannien geknüpften informelleren Bündnisse letztendlich (kurioserweise) als die wirksameren Instrumente erwiesen. Insbesondere das deutsche Bündnisverständnis sei von einer merkwürdigen "Vielzahl von Gegenläufigkeiten und Widersprüchen" gekennzeichnet, eines "verwirrenden Nebeneinanders von Vergangenheit und Zukunft" (Hildebrand). Daher sei die Schöllgensche These zu unterstreichen, dass der deutschen Außenpolitik nach dem Abtreten Bismarcks weder eine durchdachte noch über längere Zeit angelegte Konzeption zugrunde lag - was letztlich auch zu der Katastrophe des Ersten Weltkrieges beitragen sollte, da sie die Wirkung und Funktionsweise der Bündnisblöcke maßlos verschätzte. Gekoppelt mit dem immer weiter gewachsenen Grundmissvertrauen gegenüber Bündnissen, sei es jedoch in erster Linie die damit zusammenhängende "Undurchsichtigkeit und Unüberschaubarkeit der Staatenverbindungen" gewesen (419), die die verhängnisvollen Fehleinschätzungen produzierten, die den Ausbruch des Ersten Weltkrieges (mit)verursacht haben.
Zusammenfassend ließe sich festhalten, dass dieses Werk vor allem durch die ungewöhnliche Akribie beeindruckt, mit der die insgesamt 114 Vertragstexte aufgearbeitet wurden. Allerdings muss auch gefragt werden, ob aus dieser sehr ausführlichen Behandlung nicht noch wesentlich mehr Schlussfolgerungen bezüglich der Entwicklung internationaler Beziehungen in einer breiten historischen Perspektive möglich gewesen wären. Das differenzierte Urteil gegenüber der These Schroeders und der Fischers ist ohne Zweifel ein bereichernder Beitrag zur akademischen Befassung mit der Entwicklung des europäischen Staatensystems. Allerdings gehen ebenso interessante Aspekte wie etwa die zunehmende Bedeutungssteigerung der öffentlichen Meinung (397), die einiges zur Transformation der Praxis auswärtiger Beziehungen hätte aussagen können, im Untersuchungsdesign und vor dem Hintergrund der handlungsleitenden Thesen etwas unter. Interessant wäre auch eine stärkere Scharfstellung innenpolitischer Faktoren der beteiligten Akteure gewesen, denn gerade eine Studie mit mentalitätsgeschichtlichem Anspruch würde mit einer intensiveren Auseinandersetzung mit diesen und ähnlichen Aspekten sehr stark gewinnen. Alles in allem ist dieses Buch jedoch als sehr gelungener Beitrag zum Forschungskontext Internationaler Geschichte zu betrachten, der das sehr aussagekräftige - und doch wenig beachtete - Phänomen des Bündnisschlusses aufgreift.
Ursula Stark Urrestarazu