Walter Pohl / Veronika Wieser (Hgg.): Der Frühmittelalterliche Staat - Europäische Perspektiven (= Forschungen zur Geschichte des Mittelalters; Bd. 16), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2009, X + 616 S., ISBN 978-3-7001-6604-7, EUR 80,00
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Wenn der viel strapazierte Begriff des Paradigmenwechsels, wie ihn der amerikanische Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn geprägt hat, einmal wirklich angemessen ist, dann im hier vorliegenden Fall. Es gleicht - für die deutsche Forschung - schon fast einer wissenschaftlichen "Revolution", wenn mittlerweile wieder erlaubtermaßen und sehr dezidiert vom "Staat" für die Zeit des Frühmittelalters gesprochen werden darf. Zwar hat man für die frühe Merowingerzeit und dann auch für die karolingische Epoche nie ganz auf den Staatsbegriff verzichten wollen; spätestens für die Ottonen galt jedoch, wie einer ihrer führenden Erforscher, der Münsteraner Mediävist Gerd Althoff, es im Untertitel seines bekannten Ottonenbuches sehr bestimmt formuliert hatte, dass es sich bei ihnen um eine "Gesellschaft ohne Staat" gehandelt habe. Für den Rezensenten überraschend wirkt nur der Umstand, dass von denjenigen Forschern, die bislang so engagiert für die These eingetreten sind, dass ein Staatsbegriff für frühmittelalterliche Gesellschaften nicht nur heuristisch wertlos, sondern geradezu anachronistisch sei, im vorliegenden Band nur vergleichsweise wenig Gegenwehr geleistet wird. Am stärksten noch von einem weiteren, sehr prominenten Vertreter der These von einer "Gesellschaft ohne Staat", dem ebenfalls in Münster lehrenden Hagen Keller, der sich in seinem Beitrag zum vorliegenden Sammelband ("Die internationale Forschung zur Staatlichkeit der Ottonenzeit") nach wie vor überzeugt gibt, dass "die Realitäten vormoderner politischer Organisation" mit einem Staatsbegriff allenfalls "annäherungsweise" beschrieben werden könnten (ebd. 122). Allein die hier vorgetragene Argumentation wirkt stark defensiv und überzeugt nicht vollkommen. Denn kein vernünftiger Mensch wird, wie Keller es aber suggerieren möchte, wirklich die Elle des modernen Staatsbegriffs an mittelalterliche Strukturen anlegen wollen. Die Angemessenheit der Verwendung eines Staatsbegriffs auch für das frühe Mittelalter liegt für die überwältigende Mehrzahl der in diesem Sammelband repräsentierten Forscherinnen und Forscher vielmehr darin begründet, dass in nuce Strukturelemente von Staatlichkeit bereits angelegt sind bzw. dass sich solche entwickeln. Umgekehrt müssen sich hingegen diejenigen Forscherinnen und Forscher, die einen Staatsbegriff für das Mittelalter so vehement ablehnen, mit dem Vorwurf auseinandersetzen, sie argumentierten ihrerseits vielfach mit einer Begrifflichkeit, die mindestens ebenso anachronistisch sei wie der von ihnen attackierte Staatsbegriff. Eine Beeinflussung Otto Brunners (gest. 1982), des wohl wichtigsten Vertreters der sogenannten Jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte, durch den umstrittenen "Kronjuristen des Dritten Reiches", Carl Schmitt (gest. 1985), wird von Keller nicht ohne Grund kleingeredet: "[...] bin ich [H. Keller] der Meinung, dass die Affinität Brunners zu neuen Positionen der Staatslehre in den 1920er und 1930er Jahren - trotz der Berufung Brunners auf Carl Schmitt - primär auf 'Weltbilder' der damaligen Zeit zurückgeht" (ebd. 124 Anm. 50). Denn genau hier liegt der entscheidende Schwachpunkt in der Verteidigung derjenigen, die den Staatsbegriff so vehement ablehnen. Auch sie entnehmen ihre Begrifflichkeit häufig einem anachronistischen Vokabular, das den neokonservativen Diskursen der Zwanziger und Dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts geschuldet ist. Am pointiertesten hat dies im vorliegenden Band Jörg Jarnut ("Der langobardische Staat") ausgedrückt, der ausdrücklich dazu auffordert, "die Seile [zu] kapp[en], die die aktuelle deutschsprachige Forschung noch immer an die längst nicht mehr 'Neue Deutsche Verfassungsgeschichte' fesseln" (ebd. 29). Terminologisch gekappt sind die Seile bei Gerd Althoff ("Rituale als ordnungsstiftende Elemente"), dem das Kunststück gelingt, die von ihm als Kernelemente mittelalterlichen "Zusammenlebens" gedeuteten "rituellen Handlungen" "als konstitutive Elemente mittelalterlicher Staatlichkeit" zu interpretieren (ebd. 394). Darf man daraus folgern, dass auch Althoff jetzt wieder von Staatlichkeit in ottonischer Zeit sprechen möchte, weil, wie der Autor uns ja in erschöpfend vielen Beiträgen aufgezeigt hat, Rituale in jener Zeit besonders wichtig gewesen sind?
Für Roman Deutinger ("Staatlichkeit im Reich der Ottonen - ein Versuch") ist es offensichtlich kein Problem mehr, für diese Zeit von Staatlichkeit zu sprechen und ganz im Sinne der Tradition etwa eines Robert Holtzmann (gest. 1946) Herzöge, Grafen, Bischöfe und Äbte von Reichsklöstern als "Träger von Staatlichkeit" (ebd. 135) zu deuten, wenngleich er auf die im Vergleich zu späteren Zeiten noch sehr "zaghaft[e] Entwicklung der Staatlichkeit im Lauf der Ottonenzeit" (ebd. 143) verweist. - Die Fülle der hier gebotenen insgesamt 38 Aufsätze, deren Autorinnen und Autoren die ganze Spannweite europäischer Frühmittelalterforschung erahnen lassen und die zeitlich eine Spanne von über fünfhundert Jahren (5. bis Mitte 11. Jahrhundert) abdecken, erlaubt keine Besprechung im Einzelnen. Für den Benutzer als äußerst hilfreich erweist sich die sehr differenziert gestaltete Binnengliederung des Bandes. Eine erste große Einteilung, "Exemplarische Längsschnitte: Voraussetzungen und Entwicklungen", beginnt mit der Zeit um 500 und endet mit dem 11. Jahrhundert. Die zweite Großsektion ist demgegenüber stärker methodisch orientiert und fragt nach den "Trägern", "Ressourcen und Organisation", nach "Legitimierung und symbolischer Fundierung", nach "zeitgenössischen Vorstellungen und Konzepten" und nach "Grenzen und Widerständen". Eine von Hans-Werner Goetz gebotene "Zusammenfassung", verbunden mit einem "Ausblick", beschließt den Band. Eine Synthese zu ziehen, fällt dennoch ausgesprochen schwer, zumal manche Beiträge auch nicht stricto sensu unter das eigentliche Thema "Der frümittelalterliche Staat" fallen und sehr viel speziellere Themen behandeln wie etwa Fragen der merowingischen, karolingischen und ottonischen Thronfolge, des Boten- und Gesandtschaftswesens, des Lehnswesens oder der karolingischen Diplomatik in der Zeit Karls des Großen, des Münzwesens und der Königspfalz. "Das römische Königtum der Germanen" (Herwig Wolfram) findet sich ebenso berücksichtigt wie der gleich zweifach behandelte "Anglo-Saxon State". Daher sollen an dieser Stelle auch nur einige zusammenfassende charakteristische Beobachtungen vorgetragen werden. Abgesehen von den beiden schon erwähnten Beiträgen von Althoff und Keller tragen alle übrigen sechsunddreißig keine Bedenken, den Begriff des Staates bzw. der Staatlichkeit auch schon auf frühmittelalterliche Verhältnisse zu übertragen. Einig ist man sich auch in der Frage, dass die Verwendung einer solchen Terminologie historisch zu rechtfertigen sei. Es handelt sich also, um eine Formulierung des in diesem Sammelband aber nicht vertretenen Peter von Moos aufzugreifen, der schon sehr frühzeitig auf die Bedeutung von Staat und Staatlichkeit in mittelalterlicher Zeit aufmerksam gemacht hat, um einen sehr bewussten, sozusagen "kontrollierten Anachronismus" geworben hat. Generell dürfte die Aussage, die auch von einzelnen deutschen Autoren in diesem Sammelband unterstrichen wird, richtig sein, dass nämlich die Unbefangenheit in der Verwendung des Staatsbegriffes in der internationalen, namentlich italienischen und britischen Forschung ungleich größer ist als in der hiesigen einheimischen. Insgesamt drängt sich dem Rezensenten der Eindruck auf, den ihm Mitte der Siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sein akademischer Lehrer Heinz Löwe (gest. 1991) in einer Tübinger Karolingervorlesung anlässlich der berühmten Frage "Wer waren die karolingischen Freien?" vermittelt hatte: Die ältere Forschung war der Ansicht, dass [...] Demgegenüber habe die jüngere Forschung die Meinung vertreten, dass [...] Die allerjüngste Forschung sei jedoch wieder weitgehend zu der Meinung der älteren Forschung zurückgekehrt. Gleiches dürfte auch im hier vorliegenden Fall gelten. Natürlich wird man nicht mehr zu Georg von Below (gest. 1927) und seinen Thesen über den "deutschen Staat des Mittelalters" zurückkehren, wohl aber wird man jetzt wieder von mittelalterlicher Staatlichkeit sprechen dürfen. Eine weitere wichtige Einsicht, die sich in vielen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes findet, lässt sich dahingehend formulieren, dass der Begriff des Staates und der Staatlichkeit durch permanente Veränderung gekennzeichnet ist, ja, dass gerade auch der moderne Staat wieder an Staatlichkeit verlieren kann, worauf Steffen Patzold ("Bischöfe als Träger der politischen Ordnung des Frankenreichs im 8./9. Jahrhundert") ja völlig zu Recht hingewiesen hat. Die stete Wandelbarkeit staatlichen "Seins" hat im Übrigen schon der bekannte Verfassungshistoriker Heinrich Mitteis (gest. 1952) betont, der in Hegelianischen Kategorien denkend das Wesen des Staates als eine stete Entwicklung der Idee vom "Werden zum Sein" beschrieben hatte. Noch ein allerletztes, in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzendes Kriterium für den mittelalterlichen Staat bzw. die mittelalterliche Staatlichkeit wird von vielen Beiträgen hervorgehoben: Es ist die Frage nach der gesellschaftlich organisierten Gewalt und ihrer möglichen Instrumentalisierung, Legitimierung und Monopolisierung im Rahmen frühmittelalterlicher Gewalt. Auch wenn diesem Komplex im vorliegenden Band keine eigene Sektion gewidmet worden ist, spielt er doch unausgesprochen in vielen Aufsätzen eine zentrale Rolle. Man kann dem vorliegenden, auch im Wortsinne äußerst gewichtigen Band nur eine möglichst breite Rezeption wünschen.
Hans-Henning Kortüm