Ulrich Maximilian Schumann: Friedrich Weinbrenner: Klassizismus und "praktische Ästhetik" (= Friedrich Weinbrenner und die Weinbrenner-Schule; V), Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010, 355 S., ISBN 978-3-4220-6969-5, EUR 58,00
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Die wissenschaftliche Wahrnehmung des Dreigestirns der Architektur in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts - Schinkel, Klenze, Weinbrenner - ist höchst ungleich verteilt. Der Preuße und der Bayer liegen hier weit vor dem Badener, zu Unrecht sowohl angesichts des gebauten Werks als auch hinsichtlich der Wirkung. Wie sein Kollege in Berlin hat Friedrich Weinbrenner nicht nur eine seinen Namen tragende Schule begründet, sondern er hat - wenn auch ohne großen publizistischen Erfolg - als einziger ein "Architektonisches Lehrbuch" (3 Teile, 1810-1829) verfasst. Bei Schinkels so genanntem "Architektonischen Lehrbuch" handelt es sich eher um eine Sammlung von Notaten, die kein in sich konsistentes Lehrbuch ergeben. Klenze war mehr um seine Selbstdarstellung bemüht, als dass er eine große Schar Schüler um sich sammeln wollte. Weinbrenners "Architektonisches Lehrbuch" geht anders als etwa Heinrich Gentz' "Elementar Zeichenwerk" (Berlin 1806) weit über jene Vorlagenwerke in der Nachfolge von Vignola hinaus und stellt eine veritable Architekturästhetik dar. Sieht man in dem Dreigestirn ebenso herausragende wie typische Vertreter einer Architektur der Spätaufklärung, so gewinnt das Aufklärerische bei Weinbrenner tatsächlich Gestalt, indem sein Lehrbuch den angehenden Architekten nicht Regeln oktroyieren, sondern zum selbständigen Denken erziehen wollte.
Da Weinbrenners Lehrbuch eine Ästhetik vermittelte, die auf die Praxis des Entwerfens gerichtet war, spricht Schumann von der "praktischen Ästhetik" Weinbrenners. Bis das auf Schumanns Habilitation basierende Buch jedoch zu diesem entscheidenden Punkt kommt, muss sich der Leser zunächst auf einige Pfade führen lassen, die sich erst im Nachhinein nicht als Um- oder Nebenwege entpuppen. Schuhmann beginnt mit einer Rezeptionsgeschichte Weinbrenners vom 19. Jahrhundert bis zur aktuellen Forschungssituation, die ihm einen festen Platz in der internationalen Architekturgeschichte des 19. Jahrhunderts einräumt. Das war nicht immer so, der Werdegang der Bewertung Weinbrenners folgt der allgemeinen Architekturgeschichte. So wurde sein Werk im späten 19. Jahrhundert negativ bewertet, um 1900 erfolgte im Zuge des Neoklassizismus die Rehabilitation, zwischen den Weltkriegen mit den Forschungen Arthur Valdenaires gar eine Weinbrenner-Renaissance. Beim Wiederaufbau Karlsruhes verloren die meisten Bauten ihre Innenausstattung, das von Weinbrenner initiierte Stadtganze jedoch wurde in seinen Formen und Maßstäben bewahrt. Das alles ist nicht besonders überraschend, führt den Leser aber über Weinbrenners Rezeptionsgeschichte kontinuierlich an seine Denk- und Arbeitsstrukturen heran.
Gleiches gilt für das zweite Kapitel, das nun ganz dem Architektonischen Lehrbuch gewidmet ist - nicht aber dessen Inhalt, sondern dessen Editionsgeschichte. Vorab werden die früheren literarischen Erzeugnisse Weinbrenners, die sich inhaltlich von Architekturthemen bis zu einer Abhandlung über die Planeten spreizen, vorgestellt und analysiert und seine lange Zeit freundschaftliche Beziehung zu seinem Verleger Johann Friedrich Cotta sowie dem Beziehungsgeflecht der Badischen Intelligenz ausgebreitet. Dank des unendlich reichen Materials im Cotta-Archiv, Marbach kann Schumann hier die Entwicklungen minutiös verfolgen und in Betreff der Editionsgeschichte des Lehrbuchs sogar die Herkunft und Qualität der zum Druck verwendeten Papiere nachweisen.
Solcherweise vorbereitet erreicht der Leser endlich (157) das Hauptkapitel zu Weinbrenners Begründung einer klassizistischen Ästhetik, die Schumann als "praktische Ästhetik" apostrophiert. Hier ist das von Weinbrenner entwickelte Begriffspaar "Bedürfnisraum" und "Formenraum", das in der bisherigen Forschung zur Architekturtheorie des 19. Jahrhunderts nicht wahrgenommen worden ist, überraschend modern, da die frühere Architekturtheorie keinen dezidierten Raumbegriff besaß und es bislang Schulmeinung war, dass erst mit August Schmarsow der "Raum" für die architekturtheoretische Diskussion virulent wurde. Bei Weinbrenner kristallisieren sich zwei Erscheinungsformen des Raumes heraus: "ein Raum der sich nach Erfordernissen von Gebrauch und Erhaltung bildet, und ein Raum, der den Gesetzen der Formwerdung folgt." (167) Dies verfolgt Schumann am Beispiel der Lehre der Gefäße, wobei sich Weinbrenner mit den Schriften von Karl Philipp Moritz und William Hogarth auseinandersetzte. Dem Weg vom Gefäß zum Gebäude sind die folgenden Unterkapitel gewidmet, wobei den vielfältigen Einflüssen aus der zeitgenössischen Architekturtheorie und -lehre auf Weinbrenners Denken nachgegangen wird.
Die beiden letzten Kapitel setzen nun das Lehrbuch in Beziehung einerseits zu Weinbrenners eigenen Erfahrungen "zwischen alten und neuen Ruinen" (so der Titel des Kapitels) und den vom ihm benutzen theoretischen Schriften andererseits. Nach den spektakulären Ergebnissen der Analyse des Lehrbuchs wird hier Schumanns Argumentation konventionell: Mit Giovanni Battista Piranesi, Simon Louis du Ry, François Cointéreaux, Karl Friedrich Schinkel, Leo von Klenze und den frühen Publikationen zum englischen Landhaus seit John Caudius Loudon spricht Schumann zwar die wichtigsten Zeitgenossen an, bleibt hier aber auf dem Boden des Bekannten. Im letzten Kapitel - "Auf dem Weg zu 'praktischen Ästhetik'" - stellt Schumann die von Weinbrenner nachweislich selbst genutzten theoretischen Schriften von Johann Joachim Winckelmann, Karl Heinrich Heydenreich, Johann August Eberhard, Carl Ludwig Fernow, Georg Friedrich Creutzer, Friedrich Bouterweck, Jean Paul, Aloys Schreiber und Karl Heinrich Ludwig Pölitz vor. Es wäre sinnvoll gewesen, über diese ohne Zweifel bedeutenden Referenzen hinaus Bezüge zu Weinbrenners Gedankenwelt zu suchen und etwa in Johann Gottfried Grubers "Wörterbuch zum Behuf der Aesthetik" (Weimar 1810) finden zu können, für den der Begriff der "Raumerfüllung" zentral für eine Ästhetik der Architektur war.
Schumanns Buch bereichert unsere Kenntnis über die Architekturtheorie des 19. Jahrhunderts ungemein. Allein sein kurzer Hinweis auf Gottfried Sempers Untertitel seines monumentalen "Stils" - nämlich "eine praktische Ästhetik" - öffnet hier die Pforten für ein neues Nachdenken über die Genese von Begriffen und Vorstellungskonstruktionen, die auf direktem Wege in die Moderne führen und noch immer auch für die aktuellen Diskussionen um Modernität grundlegend sind.
Klaus Jan Philipp