Jürgen Dendorfer / Roman Deutinger (Hgg.): Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte - Quellenbefunde - Deutungsrelevanz (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 34), Ostfildern: Thorbecke 2010, 488 S., ISBN 978-3-7995-4286-9, EUR 54,00
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Der Tagungsband umfasst 21 Beiträge zum Lehnswesen. Sein Schwerpunkt liegt auf dem 12. Jahrhundert, reicht jedoch teilweise ins 11. und ins 13. Jahrhundert hinein. Die ausführliche Einleitung von Jürgen Dendorfer und die ebenso ausführliche Schlussbetrachtung von Roman Deutinger ordnen nicht nur das Thema der Tagung, sondern auch die Beiträge sehr genau in den gegenwärtigen Forschungsstand ein und geben ihnen ihren Stellenwert im Rahmen der derzeit offenen Fragen. Das 12. Jahrhundert wird deswegen ins Visier genommen, weil seit der Veröffentlichung von Susan Reynolds (1994) man dort am ehesten die verfassungsgeschichtlichen und sozialen Veränderungen vermutet, die zur Ausbildung der Lehnsherrschaft führten.
Überraschenderweise ist das Ergebnis jedoch gemischt zwischen klaren Erkenntnissen, dass das Lehnswesen existierte, und solchen, die für das 12. Jahrhundert immer noch von einem offenen Leihesystem ausgehen. Die Ergebnisse hängen zum Teil von den untersuchten Quellen ab. So spiegelt sich in den Kaiserurkunden (Rudolf Schieffer) und in den frühen Lehnbüchern (Karl-Heinz Spieß) recht deutlich die lehnrechtliche Leihe wider. Ein Lehnswesen im Sinne der Definition von Georg Waitz und Heinrich Mitteis (Werner Hechberger, Hans-Henning Körtum), wonach es dann vorliegt, wenn ein Vasall im Besitz eines Lehens ist und davon militärische Dienste und Folgeleistung zu erbringen sind, ist jedoch auch in diesen Quellen, vor allem in den staufischen Herrscherurkunden, nicht durchweg gegeben. Zu den frühen Lehnbüchern stellen die Urbare (Gertrud Thoma) ein wichtiges Pendant dar, da durch sie die gegenseitige Bedingtheit und der ganze Kontext der hochmittelalterlichen Besitzaufzeichnungen stärker zu Tage treten.
Klosterchroniken sind vielleicht nicht alle so aussagekräftig wie die von St. Truiden/St-Trond (Steffen Patzold), doch zeigt sich gerade an diesem Beispiel mit wünschenswerter Deutlichkeit, wie sich hergebrachte grundherrliche Strukturen mit neuen sozialen Entwicklungen zu einer politischen und wirtschaftlichen Herausforderung für Äbte des 12. Jahrhunderts gestalteten. In St. Truiden gab es noch die aus dem frühen 9. Jahrhundert bestens bekannten Vasallen der klösterlichen familia als berittene Begleitung des Abtes auf seinen Reisen, die auch für den Transport des Gepäcks sorgten und Botendienste verrichteten. Die Ministerialen weigerten sich, solche niedrigen Dienste mit ihren Pferden zu verrichten. Nur bei 10% der 30 Fälle von Leihen liegt in St. Truiden ein vasallitisches Lehen vor.
Wie genau die Klosterchronik die soziale Wirklichkeit wiedergibt, bestätigen die regionalen Untersuchungen von Privaturkunden (und anderen Quellen), die terminologisch denselben Befund aufweisen. Zwar wird im späten 12. Jahrhundert das beneficium durch das feudum ersetzt, ohne damit jedoch zu einer juristischen Klärung zu führen. Feudum ist genau so wenig stets ein Mannlehen bzw. ein ritterlich-vasallitisches Lehen gewesen wie vor ihm das beneficium. Beides können, müssen aber keine lehnrechtliche Begrifflichkeit sein (Dirk Heirbaut für Flandern, Thomas Zotz für Schwaben, Hubertus Seibert für Bayern, der letztgenannte mit erstaunlich geringer Sensibilität für die Übersetzungsproblematik der einschlägigen Begrifflichkeit). Für die erste Führungsschicht unterhalb des Königtums, beispielsweise bei den Erzbischöfen von Mainz und Köln ist zwar das dingliche Element des Lehnswesens, also das Lehen, kaum jedoch das persönliche Element, d. h. die Vasallität, nachzuweisen (Stefan Burkhardt).
Die Reaktionen auf diesen Befund führen zu unterschiedlichen Thesenbildungen. Dirk Heirbaut meint, die lateinische Begrifflichkeit spiegle möglicherweise eine Vielfalt von Leihearten vor, die es in der Realität nicht gegeben habe, denn sobald das deutsche lên aufkomme, zeige sich eine Vereinheitlichung aller Leihverhältnisse. Damit befinden wir uns aber bereits im 13. Jahrhundert, das auch sonst für seine Generalisierung, auch von Praktiken der Belehnung, bekannt ist (Florian Mazel bezüglich der Provence). Stefan Burkhardt spricht von einer Demilitarisierung des Lehnswesens, verneint aber seine eigene Frage, ob es dadurch entwertet werde. Vor dem Hintergrund der Mitteisschen Definition ist allerdings zu fragen, ob es dann überhaupt ein Lehnswesen war. Um die Verwechslung von Leiheverhältnissen mit dem Lehnswesen zu vermeiden, wäre an Wilhelm Ebel zu erinnern, der sich bereits 1956 über die Überbetonung des vasallitischen Lehen in der historischen Forschung wunderte und wohl zu Recht meinte, das mittelhochdeutsche lên wäre besser mit Leihe als mit Lehen wiederzugeben.
Auf der anderen Seite erweisen jedoch weitere regionale Studien im selben Tagungsband, dass Regionen, für die die Lehnsherrschaft von einer gewissen Bedeutung war (z.B. Languedoc), mit Regionen abwechseln, in denen dies kaum (Provence) oder gar nicht im Untersuchungszeitraum vorhanden war (Oliver Auge für den Nordosten des Reiches). Des Öfteren wird daher auf das 13. Jahrhundert als die entscheidende Umbruchszeit für die Aufrichtung der Lehnsherrschaft gezeigt, denn im 12. Jahrhundert sind die Kontribuenten in ihrer überwiegenden Anzahl nicht so eindeutig fündig geworden, wie man es sich erhoffen durfte.
Die personale Seite des Lehnswesen wird auf den verschiedenen sozialen und politischen Ebenen erfasst: Bischöfe (Jürgen Dendorfer), Kaiser-Papst (Roman Deutinger), Ministerialität (Jan Keupp), Herzöge (Gerhard Lubich). Darüber hinaus werden weitere lehnrechtliche Konzepte wie Treue und Vertrauen (Stefan Weinfurter), Freundschaft und Vasallität (Klaus van Eickels), Handgang und Investitur (Philippe Depreux) auf ihre Deutungsrelevanz hin überprüft, wobei sich auch hier negative und positive Befunde die Waage halten. Negativ ist ferner das germanistische Ergebnis (Jan-Dirk Müller), da sich in der mittelhochdeutschen Literatur keine spezifisch lehnrechtlich deutbaren Personenbeziehungen erkennen lassen.
Damit sind noch nicht annähernd die vielen lesenswerten Beiträge mit ihren hochinteressanten Beobachtungen zur Wissenschaftsgeschichte, Neuinterpretationen der Quellenlage und zur verfassungsgeschichtlichen Theoriebildung zur Gänze erfasst. Insgesamt wird hiermit eine Revision der deutschen Forschung seit Georg Waitz vorgenommen. So wird der Tagungsband auch von daher seine Bedeutung für alle weiteren Forschungen zum Lehnswesen behalten.
Brigitte Kasten