Rezension über:

Barbara Lüthi: Invading Bodies. Medizin und Immigration in den USA 1880-1920 (= Studien zur historischen Sozialwissenschaft; Bd. 33), Frankfurt/M.: Campus 2009, 397 S., 11 s/w Abb., ISBN 978-3-5933-8887-8, EUR 45,00
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Rezension von:
M. Michaela Hampf
John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Maren Lorenz
Empfohlene Zitierweise:
M. Michaela Hampf: Rezension von: Barbara Lüthi: Invading Bodies. Medizin und Immigration in den USA 1880-1920, Frankfurt/M.: Campus 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 5 [15.05.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/05/18828.html


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Barbara Lüthi: Invading Bodies

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Der auf der Baseler Dissertation von Barbara Lüthi basierende Band stellt eine umfassende Analyse der Medikalisierung von Immigration und der Grenzen der USA dar und öffnet innerhalb der deutsch- und englischsprachigen Forschung mit dieser thematischen Ausrichtung ein neues Feld. Die historische Medikalisierungsforschung in den USA beispielsweise hatte bisher Themenbereiche untersucht, die direkt mit Feldern wie Medizin, Eugenik und Ausgrenzung von medizinisch definierten Subjekten verbunden war. Als kleine Auswahl aus einem unübersichtlichen Forschungsgebiet seien aus den USA die Arbeiten von Peter Conrad und Edwin R. Van Teijlingen angeführt, aus Deutschland die Untersuchungen von Heinz Eppenich, Elisabeth Lindner und Merith Niehuss. [1]

Mit der Geschichte der Einwanderung über Ellis Island in dieser Zeit haben sich unter andrem auch Vincent Cannato und Amy Fairchild beschäftigt. [2] Dass in der vorliegenden Untersuchung eine Verschiebung auf das Feld des Politischen und Sozialen stattfindet, indem die Immigration als Prozess der Medikalisierung verstanden wird, ist ein Umstand, der nicht deutlich genug hervorgehoben werden kann. Damit verbindet die Verfasserin so unterschiedliche Disziplinen wie Geschichte der Medizin, Körpergeschichte und Foucaultsche Machtanalyse zu einem neuen Ganzen - ein Ansatz der als voll und ganz gelungen gelten darf.

Barbara Lüthis Arbeit beschäftigt sich mit dem "klassischen Zeitraum" der "Neuen Einwanderung" in die USA, also der Geschichte der vorwiegend aus Süd- und Südosteuropa stammenden Menschen, die nach 1880 massenhaft in die USA strömten, bevor in den 1920er Jahren eine rassifizierende Beschränkung den mächtigen Strom der Einwanderung zu einem schmalen Rinnsal machte. Ähnlich wie bereits in den 1840er Jahren wurde die Einwanderung als Bedrohung wahrgenommen. Im Gegensatz zur "alten Einwanderung" wurden zur Abwehr aber nicht mehr die Argumente des Alkoholkonsums und des Katholizismus bemüht. Das neue Bedrohungsszenario rekurrierte auf Reinheitsvorstellungen, die sowohl eugenisch wie hygienisch interpretiert werden konnten. Barbara Lüthi versteht es, die Intersektionalität rassistischer und medizinischer Diskurse herauszuarbeiten und in den Kontext der politischen Praktiken wie Grenzkontrollen und Anti-Immigrationsgesetze zu stellen. Damit verfolgt sie den Anspruch, "einen Beitrag zur Frage, wie die staatliche Politik im Prozess Migration [...] direkt in das Leben der Akteure intervenierte" zu leisten. (17) Dass dieser Ansatz nicht ohne eine Perspektivierung der nationalen Identitätsdiskurse in den USA möglich ist, leuchtet ein. Als Ort der Untersuchung wurde Ellis Island (NY) ausgewählt, jener Raum, in dem derartige Prozesse der medizinisch-rassischen Klassifizierung aufs Höchste verdichtet stattfanden. Der Klassifizierung folgte die Rückführung, die Einweisung in die Quarantäne oder die Aufnahme der ImmigrantInnen in die USA. Barbara Lüthi stellt dabei medizinische Untersuchungen, die zeitgenössischen Klassifizierungspraktiken und die damit verbundenen Wahrnehmungsmuster der ImmigrantInnen in das Zentrum ihrer vielschichtigen Studie.

Nach einer Einführung in das Thema, die die verwendeten Begrifflichkeiten (Migration/Grenzen/Körper/Krankheiten/Reinheit) erklärt und historisiert, beschäftigt sich das erste Kapitel "The Invading Body" mit dem Mainstreamdiskurs in populären Zeitschriften und dem Zusammenhang von Immigration, Katastrophenszenarien, dem Zusammenhang von Rassismus und Eugenik, dem Diskurs um die Reinheit des Bluts und der besonderen Bedeutung, die die Urbanisierung für die unterstellte Degeneration der einwandernden Bevölkerung annahm. Das zweite Kapitel "The Screened Body" stellt den United States Public Health Service (USPHS) ins Zentrum, ein typische Produkt des Progressivism in seiner Mischung aus sozialer Reform, Machbarkeitswahn, Verwaltungsdispositiv und wissenschaftlich verbrämten Rassismus. Diese Institution war weitgehend für die Kontrolle, Klassifizierung und Lenkung des EinwanderInnenstroms auf Ellis Island zuständig. Die Übernahme der Kontrollfunktion innerhalb des amerikanischen öffentlichen Gesundheitssystems koinzidierte mit dem diskursiven Übergang von der Vorstellung des Miasmas zum "moderneren" Konzept des Bakteriums. Der USPHS stand dabei auf der Seite der "Moderne" und lehnte die Miasmatheorie ab (129 f.). Der "Vorteil" des Bakteriums bestand gesundheitspolitisch darin, dass es damit möglich wurde, sich auf den individuellen Körper der ImmigrantIn zu konzentrieren. So wurde es möglich, individuelle Körper als Gefahr oder Feind auszuschließen und damit die Immigration zu steuern. Den Körper der USA und seiner BewohnerInnen galt es vor den Feinden zu schützen.

Das dritte Kapitel "The Jewish Body" demonstriert die Verschränkung von Rassismus und Medizin: Jüdische Körper wurden kategorisiert und pathologisiert, der jüdische Körper war zugleich ein kranker Körper. Dieses Kapitel stellt zudem einen unübersehbaren Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus in den USA dar, ein Punkt, der allein schon eine Bereicherung der Forschung dargestellt hätte. Jüdinnen und Juden galten als Träger von Geisteskrankheiten aber auch als genetisch anfällig für bestimmte Krankheiten wie die Tay-Sachs Disease. Dies führte bei bis zu 30 Prozent der jüdischen Einwanderungswilligen zu einer Rückführung ins Herkunftsland. Darüber hinaus wurden Schädel von Jüdinnen und Juden vermessen und mit "angelsächsischen" Schädeln verglichen. Solche Maßnahmen erinnern an die Rasseideologie des NS, wobei Lüthi eine affirmative Übernahme des Rassenbegriffs durch einige jüdische Zeitgenossen nachweisen kann.

Nun war die Pathologisierung nicht auf "jüdische Körper" beschränkt, wie das vierte Kapitel "The Pathological Body" demonstriert. Am Beispiel der schlechten Haltung und des Trachoms wird aufgezeigt wie Bedrohungsszenarien ausgefüllt werden konnten. Die poor physique sei die größte Gefahr für die Zukunft der amerikanischen Rasse ("stock"), schrieb man damals. Damit stand die Definition einer standard physique im Raum, ein Unterfangen, das sich in einem demokratisch verfassten Staat als viel schwieriger herausstellen sollte als in einer faschistischen Diktatur. Das Trachom hingegen eignete sich als ein unmittelbar sichtbarer und ästhetisch "abstoßender" Makel als Merkmal, das zur Abweisung führen konnte.

Das intellektuelle Lesevergnügen bei diesem Buch, das weit über ältere Studien hinausgeht, liegt genau in dieser Koppelung der beschriebenen Diskurse. Die vorliegende Studie ist eine methodisch reflektierte, empirisch dichte und theoretisch auf höchstem Niveau argumentierende Arbeit, die lesenswert und allseitig anschlussfähig ist.


Anmerkungen:

[1] Peter Conrad: Identifying Hyperactive Children : The Medicalization of Deviant Behavior, Aldershot / Burlington, VT 2006. Edwin R. van Teijlingen: Midwifery and the Medicalization of Childbirth. Comparative Perspectives, New York 2004. Heinz Eppenich: Geschichte der deutschen homöopathischen Krankenhäuser. Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Heidelberg 1995. Ulrike Lindner / Merith Niehuss: Ärztinnen - Patientinnen. Frauen im deutschen und britischen Gesundheitswesen des 20. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien 2002.

[2] Vincent J. Cannato: American Passage. The History of Ellis Island, New York 2009. Amy L. Fairchild: Science at the Borders. Immigrant Medical Inspection and the Shaping of the Modern Industrial Labor Force, Baltimore 2003.

M. Michaela Hampf