Jens Hildebrandt: Gewerkschaften im geteilten Deutschland. Die Beziehungen zwischen DGB und FDGB vom Kalten Krieg bis zur Neuen Ostpolitik 1955 bis 1969 (= Mannheimer Historische Forschungen; Bd. 31), St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2010, 723 S., ISBN 978-3-86110-476-6, EUR 68,00
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Die Mannheimer Dissertation erweckt ein zuletzt nahezu verloren gegangenes Forschungsfeld zu neuem Leben - die Gewerkschaftsgeschichte. Der Autor untersucht die Beziehungen zwischen den zentralen Gewerkschaftsorganisationen im Osten und im Westen der geteilten deutschen Nation zwischen 1955 und 1969 und versucht diese in ihrer Dependenz von und zugleich Funktion im Systemkonflikt der Zeit zu verorten. Durch diesen breite Ansatz werden Relevanz und "Aktualität" (13) der Gewerkschaftshistoriografie im Rahmen der deutschen und europäischen Geschichte deutlicher. Hildebrandts Parallelgeschichte - DGB und FDGB in ihren Bemühungen um gegenseitige Abgrenzung wie auch in ihrer Interaktion und wechselseitigen Beeinflussung - entspricht dem von Christoph Kleßmann geforderten Anspruch an die deutsche Historiografie.
Die klassischen gewerkschaftshistorischen Fragen nach Organisation, internen Debatten und gesellschafts- und tarifpolitischem Handeln werden hier mit Themen aus dem Fragenkatalog der internationalen Forschung zum Ost-West Konflikt - etwa zu Asymmetrien, Spielräumen, Perzeptionen - ergänzt. Diese mit einem verbreiterten methodologischem Repertoire verknüpfte Frage nach der Wirkmächtigkeit von Gewerkschaften unter den Bedingungen des Kalten Krieges der fünfziger und sechziger Jahre könnte auch als Definition einer modernen Gewerkschaftsgeschichte gelesen werden - die über die Neubestimmung der Relevanz des Untersuchungsobjekts zugleich die eigene Bedeutung neu konstituiert.
Der Autor begründet den Untersuchungszeitraum denn auch nicht mit gewerkschaftshistorischen Überlegungen, sondern mit Veränderungen in den politischen Rahmenbedingungen: 1955 mit der formellen Souveränität der beiden deutschen Staaten und 1969 mit dem Regierungswechsel in Bonn. Die "neue" Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition und der in dieser Lesart ab 1955 sozusagen in Eigenregie fortgesetzte "deutsche Sonderkonflikt" (53) bilden jedoch eher unscharfe Eckpunkte dieser besonderen Beziehungsgeschichte; ein Umstand, auf den in der Einführung und im Analyseteil auch wiederholt hingewiesen wird. So beginnt Hildebrandt seinen Forschungsteil denn auch mit der "Radikalisierung" (86) insbesondere der deutschlandpolitischen Position des DGB auf dessen Bundeskongress vom Oktober 1954 und beschreibt die sukzessive Durchlöcherung des Kontaktverbots zum FDGB in den Jahren 1964 bis 1969 als eine Art gewerkschaftspolitischer Variante von Willy Brandts Ostpolitik der "kleinen Schritte". Bereits diese Anmerkung zur Periodisierungsproblematik belegt die Fokussierung des Autors auf den DGB, dessen interne Abläufe, Gruppierungen, ideologie- und deutschlandpolitische Debatten. Dies ist sicherlich auch dem Quellenzugang und dem Charakter und Inhalt der bearbeiteten Dokumente geschuldet.
In der durchweg quellengesättigten Darstellung Hildebrandts scheinen in den strategischen Ansätze und Initiativen der FDGB- und SED-Führung gegenüber dem DGB, wenn überhaupt, jedenfalls nur sehr geringfügige Änderungen auf: Zu dominant bleibt das Bild der westdeutschen Gewerkschaftsführer (und der SPD-Politiker) als "Klassenverräter", die zwischen der kommunistischen Elite im Osten und dem von ihr eigentlich zu führenden Proletariat im Westen Deutschlands stehen und so die geschichts-gesetzlichen revolutionären Umwälzungen verhindern würden. Dieses ideologische Axiom definierte Gewerkschaftler und Sozialdemokraten zu Hauptfeinden und verlangte geradezu nach einem direkten Kontakt zu den "einfachen" Gewerkschafts- und SPD-Mitgliedern in der Bundesrepublik.
Diesem Ansatz folgte denn auch die "Westarbeit" des FDGB durch den gesamten Untersuchungszeitraum: Von dem Versuch der Einflussnahme auf die Atomwaffenproteste und Ostermärsche der frühen Bundesrepublik über gezielte Einladungen, die Veranstaltung von Arbeiterjugendkongressen bis zur Durchführung gesamtdeutscher Arbeiterkongresse. Dabei schien dem FDGB die Asymmetrie der Ressourcen in die Hände zu spielen: Während im "Referat Wiedervereinigung" des DGB lediglich ein, ab 1961 zwei Mitarbeiter angestellt waren (davon kurioserweise ein Spion des MfS), standen für die Westarbeit des FDGB-Vorstandes insgesamt 62 Mitarbeiter zur Verfügung. Wirkliche Vorteile konnte die DDR daraus aber offenbar nicht gewinnen: Bereits vor dem Mauerbau wurde ein eklatanter Mangel an Nachfragen von westdeutschen Gewerkschaftsmitgliedern für Schulungen (die sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR organisiert wurden) konstatiert. Der FDGB-Bezirk Leipzig beanspruchte 1959/1960 sogar nur zehn Prozent der für seine Westarbeit zur Verfügung gestellten Gelder und wurde entsprechend heftig dafür gerügt.
Im Vergleich hierzu zeichnet das Buch das DGB-interne Ringen um den "richtigen" Kurs gegenüber den Machthabern und den Gewerkschaftsfunktionären in der DDR sehr detailliert nach. Hildebrandts Arbeit belegt, dass insbesondere der Vorsitzende der ÖTV, Heinz Kluncker, frühzeitig für einen Strategiewandel hin zu einer Kontakt- und Transformationspolitik plädierte. Interessant und auch widersprüchlich sind die Ergebnisse des Autors besonders, wenn er DGB-Protokolle mit dem Informationsstand der SED- und FDGB-Führung abgleichen kann. Offenbar war Ost-Berlin Mitte der sechziger Jahre durch einen Informanten im DGB-Vorstand sehr genau über die neuen Ideen Klunckers und seine enge Kooperation mit Willy Brandt in dieser Frage informiert. Die darauf basierenden Analysen und Schlussfolgerungen in Ost-Berlin konnten jedoch gegensätzlicher kaum sein: Während das Ministerium für Staatssicherheit auf die wachsende "Anti-DDR-Haltung" im DGB verwies und deshalb dazu riet, Kluncker durch geeignete "Kontaktpersonen" zu einer nachhaltigen Unterstützung von Brandts Kontaktpolitik zu drängen (608), hegte SED-Chef Ulbricht bereits düstere Vorahnungen über die möglichen Folgen einer neuen Bonner Ostpolitik für seinen Staat: "die Gefahr [...] der Entspannung" habe man wohl unterschätzt (607). Beachtenswert ist nicht nur, dass beide Überlegungen zeitgleich in Ost-Berlin existierten, sondern auch der bemerkenswert frühe Zeitpunkt: April 1966, als Brandt in der SPD als auch Kluncker im DGB für ihre Vorstellung einer neuen ostpolitischen Strategie noch längst keine Mehrheiten hatten.
Diese Art der doppelten Perzeptionsgeschichte - mit ihren inspirierenden Rückschlüssen auf übergeordnete deutschland-, partei- und gewerkschaftsgeschichtliche Fragen - bleibt jedoch eher eine Ausnahme. Das Werk bietet - wohl auch bedingt durch den überwiegend institutionellen Charakter der bearbeiteten Bestände - vornehmlich eine Parallelgeschichte von DGB und FDGB in den frostigeren Tagen des Kalten Krieges. Über die internen Debatten und Wahrnehmungen geraten Interaktion, wechselseitige Beeinflussung und internationale Kontextualisierung in den Hintergrund. Auch der Weg in eine neue, vernetzte Gewerkschaftsgeschichte beginnt eben mit einem ersten Schritt. Es wäre wünschenswert, wenn weitere Schritte, etwa zu den deutsch-deutschen Gewerkschaftskontakten in der Entspannungsära, während der Polenkrise oder in den späten 1980er Jahren folgen würden.
Oliver Bange