Hubertus F. Jahn: Armes Russland. Bettler und Notleidende in der russischen Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 250 S., 8 s/w Abb., ISBN 978-3-506-76929-9, EUR 34,90
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Das russische Sprichwort "Reichtum vergeht, aber Armut lebt fort" rahmt Jahns Buch ein. Illustriert von so unterschiedlichen Quellen wie Chroniken, Polizeiberichten, literarischem Material bis hin zu anthropologischen Untersuchungen der jüngeren Gegenwart zeichnet er die Geschichte der Armut in Russland im zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext mehrerer Jahrhunderte nach. Nicht zuletzt bedingt durch die Quellenlage liegt der Schwerpunkt beim 18. und 19. Jahrhundert. Auch das alte Russland und die Sowjetzeit sowie die jüngere Gegenwart finden aber die Beachtung des Autors. Ziel des Werkes ist weniger die Erforschung der Ursachen von Armut, als vielmehr die Untersuchung ihrer Wahrnehmung (16).
In den Chroniken des alten Russland treten Bettler in erster Linie als Almosenempfänger auf. Sie nehmen eine religiöse Funktion ein, da die christliche Lehre jener Zeit das Almosengeben als heilsnotwendige Pflicht betont. Die Gründe für das Betteln spielen in den Quellen kaum eine Rolle. Auch wird die Bedürftigkeit selten in Frage gestellt.
Wie Jahn anhand einer kurzen etymologischen Analyse darlegt, verschwimmen in den Textzeugnissen des alten Russland die Bezeichnungen für verschiedene Gruppen, die von Almosen leben, so zum Beispiel Invalide, Bänkelsänger und blinde Sänger, Pilger, Gottesnarren (27-29). Demgegenüber mehren sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert von obrigkeitlicher Seite die Versuche, Bettler und Arme zu klassifizieren. Wirklich Bedürftige sollten identifiziert und Heuchler entlarvt werden. Die Gesetze des 18. Jahrhunderts waren freilich wenig erfolgreich. Sie spiegeln noch den utopischen Wunsch wider, das Betteln "per Ukaz" abschaffen zu können (51). Erst im 19. Jahrhundert kam es zu einer Institutionalisierung der Armenfürsorge. Das Komitee zur Sortierung und Aufsicht von Bettlern in Sankt Petersburg entwickelte Reglements, wie mit welcher Klasse von Bettlern zu verfahren sei. Ziel war es, sogenannte Streuner zu bestrafen, Arbeitsfähigen eine Arbeit zu verschaffen und unverschuldete, arbeitsunfähige Menschen in wohltätigen Einrichtungen unterzubringen. Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Bedürftigen aber so stark an, dass das Komitee seine Aufgaben nur noch bruchstückhaft erfüllen konnte (89).
Im 5. Kapitel widmet sich der Autor den Lebensumständen der Bettler und Armen. Lobenswert ist Jahns kritischer Ansatz, sich den behördlichen statistischen Quellen nur sehr vorsichtig zu nähern. Relativ klar lässt sich belegen, dass Soldaten und deren Angehörige die größte Gruppe ausmachten (96). Schwieriger ist beispielsweise die Verteilung nach Geschlechtern. Der Anteil der beim Bettlerkomitee gemeldeten männlichen und weiblichen Bettler veränderte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts stark. Dahinter stehen auch veränderte Zuordnungen: männliche Bettler galten leichter als Streuner, Frauen als Prostituierte; beide Kategorien zählten nicht als bedürftig. Aussagekräftigere Quellen sind Berichte der Gouverneure, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Ursachen für die wachsende Zahl von Bettlern in ländlichen Regionen suchten (98-102), und schließlich ethnographische Berichte und Reportagen (102-109).
Anhand literarischer Quellen erforscht Jahn die Wahrnehmung von Bettlern durch ihre Zeitgenossen. Im 18. und 19. Jahrhundert war die Darstellung von Armen und Bettlern oft romantisch überhöht. Zwar zeigten belehrende Fabeln und Dramen, wie Laster einen Menschen an den Bettelstab bringen können. In den von Jahn analysierten Journalen überwiegt aber die Assoziation von Armut mit Bescheidenheit, Güte und Mitmenschlichkeit. Im Feuilleton des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine realistischere Darstellung. Die Autoren begaben sich selbst in die Elendsviertel der Großstädte, um Material für Milieustudien zu sammeln. Die Skizzen dienten nicht nur dazu, die Neugier der Leser für ihre exotische Nachbarschaft zu befriedigen, sondern trugen durch die drastische Darstellung auch sozialkritische Züge.
Im letzten Kapitel umreißt Jahn schließlich die Wahrnehmung von Bettlern im Sozialismus und in der jüngeren Gegenwart der 1990er Jahre. Die bisherigen Kategorien für vermeintlich echte und falsche Bettler wurden ersetzt durch die Einteilung in Arbeiter und Bourgeoisie. Ansprüche auf Hilfe bemaßen sich nach der Parteitreue. Infolge von Bürgerkrieg, Misswirtschaft und schließlich dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich neue Ausprägungen von Armut. Das strenge Meldesystem verhinderte einige traditionelle Bettelmethoden, dafür entwickelten sich Kleinerwerbsformen wie Tauschhandel und Glücksspiel. Für die Gegenwart bringt Jahn abschließend Beispiele aus anthropologischen Untersuchungen zum Rollenverhalten Petersburger Bettlerinnen und Bettler.
Der vorliegende Band ist ein gut lesbares Buch, übersichtlich gestaltet mit knappen Kapiteln und Endnoten. Lange Zitate oder Paraphrasen als Einleitung zu den Abschnitten sorgen für Anschaulichkeit. Stellenweise birgt dies allerdings die Gefahr, ins Anekdotenhafte abzugleiten und zulasten einer quellenkritischen Betrachtung zu gehen.
Die Stärke von Jahns Abhandlung, epochenübergreifend eine Wahrnehmungsgeschichte zu schreiben, muss notwendigerweise auch eine Schwäche sein. Auf 140 Textseiten können viele Motive nur kurz angerissen werden. Für jede der Großepochen überwiegt ein Aspekt: für die altrussische Zeit dominiert die religiöse Wahrnehmung, für das 18. und 19. Jahrhundert die Darstellung in literarischen Quellen sowie Gesetzestexten. In der knappen Analyse der Sowjetzeit geht Jahn am Stärksten auf die Ursachenforschung ein, erst für die Gegenwart werden wieder Einzelschicksale betrachtet. Dies sind zahlreiche Linien, die es durchaus verdient hätten, jeweils über alle Jahrhunderte verfolgt zu werden. Die religiös-karitativ motivierte Armenpflege blühte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, fehlt bei Jahn aber gänzlich - begründet wird dies damit, dass die Geschichte der Armenpflege an anderer Stelle beispielsweise von Adele Lindenmeyr erforscht wurde (15). Bedauerlich ist auch, dass sich die Analyse literarischer Darstellung auf die Zarenzeit beschränkt. Gerade das frühe 20. Jahrhundert bietet eine große Bandbreite an satirischer Auseinandersetzung mit der kommunistischen Mangelwirtschaft, man denke nur an Autoren wie Bulgakov, Il'f und Petrov oder Michail Zoščenko.
Für die gesetzlichen und institutionellen Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert ist die Kürze der Darstellung vorteilhaft. Jahn bietet einen klaren Überblick, selbst wenn die Abläufe in der Realität wohl nicht immer so folgerichtig waren wie vom Autor beschrieben. Bedenklich ist die Kürze in Bezug auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zwar ist nachvollziehbar, dass sich Jahn angesichts der Breite seines Forschungsfeldes auf Schlaglichter beschränkt. Auch ist Pietät kein wissenschaftlicher Maßstab. Dennoch erscheint es gewagt, wenn die gesamte Sowjetzeit mit Krieg, Krisen und Hungersnöten auf knappen acht Seiten abgehandelt wird.
Als gut lesbare Überblicksdarstellung ist Jahns "Armes Russland" gleichwohl eine echte Bereicherung für das Fach Osteuropäische Geschichte und bietet zahlreiche Anregungen für weitere, auch interdisziplinäre Forschungen.
Angelika Schmähling