Jörg H. Gleiter: Urgeschichte der Moderne. Theorie der Geschichte der Architektur (= 4), Bielefeld: transcript 2010, 161 S., ISBN 978-3-8376-1534-0, EUR 19,80
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Die "Urgeschichte der Moderne" erschien als vierter Band in der von Jörg H. Gleiter selbst 2008 begründeten Reihe "Architektur Denken". Dabei mag der Buchtitel einen Hinweis auf den ausgeloteten Zeitrahmen geben. Tatsächlich reichen einige Themen dieser Aufsatzsammlung zurück bis zur antiken Baukunst, gemäß der Prämisse Gleiters: "Die Moderne ist keineswegs geschichtslos" (Klappentext). Das handliche Werk besteht aus sieben Aufsätzen, die bis auf eine Ausnahme als Vorträge gehalten und teilweise bereits publiziert wurden.
Gleiters erster Aufsatz trägt den Titel "Strukturales Denken in der Architektur". Die Rückkehr des strukturalen Denkens im Zeitalter digitaler Medien führt ihn zu der Frage, ob ein solches Denken bereits in der Epoche des Barocks existierte. Gleiter versucht dies am Beispiel des Schlossgartens von Vaux le Vicomte und den Gesetzen der perspective ralentie nachzuweisen. Wechselnde Wahrnehmungseffekte deutet er als anthropologisches Wirkungsmoment. Gleiches versucht Gleiter bei der äußeren Erscheinungsform der Mole Antonelliana in Mailand und deren wechselnde Bedeutungen als Synagoge, Tempel, Kirche und Moschee. Sein Erklärungsansatz lautet: "Die Analyse zeigt, dass der Entwurf gestalterischen Regeln folgt, die im Hintergrund und unsichtbar bleiben. Man könnte auch von einem Algorithmus sprechen." (17) Somit wäre die Mole Antonelliana Ergebnis eines logischen Programmablaufs, was mit Blick auf die Entwurfspraxis heutiger Architekturbüros wie UNSTUDIO oder MVRDV durchaus zutrifft, ohne eingehende baugeschichtliche Untersuchung aber ernsthaft anzuzweifeln ist.
Zwei der Aufsätze erweitern den Band um den Aspekt "Denkmale im öffentlichen Raum". Damit lotet Gleiter einen Bereich der Gegenwartskunst aus, der nicht zwingend der Architekturtheorie zugehörig ist. In "Gelebter Raum der Erinnerung" zeigt er die Überwindung pathosgeladener Kunstwerke gegen die NS-Verbrechen durch heutige so genannte "Gegendenkmale" bzw. "abstrakte Denkmale". Diese überwinden ihren Kunstcharakter durch "Dissimulation im Alltag" (25). Aus Orten des Gedenkens werden Denk-Orte, die das Wahrgenommene durch "unmittelbare, geistige Sublimation" (20) zu verarbeiten zwingen. Dazu Gleiter: "Es bedarf daher in erster Linie der Überwindung der formalästhetischen, künstlerischen Mahnmalkonzeptionen und einer leib- und raumphänomenologischen Weitung ihrer bisher wesentlich bildhaften Konzeption in den Alltag, in den gelebten Raum des Alltags." (33)
In "Ästhetik am Nullpunkt" setzt sich Gleiter eingehend mit dem Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas auseinander. Zuvor referiert er dessen Entstehungsgeschichte und arbeitet sich durch die Spannungsfelder "Ortlosigkeit und autonome Kunst" sowie "Monumentalität und Darstellung des Nichtdarstellbaren". Die gefundene Form des Mahnmals spiegelt eine Ästhetik des Erhabenen. "Mit der paradoxen Form des Erhabenen könne das maßlose Leiden der Opfer in eine sinnlich erfahrbare, das heißt ästhetische Form gebracht werden." (92) Doch mit der Integration des Dokumentationszentrums sieht Gleiter diese Konzeption wieder in Frage gestellt, nämlich jenen "äußersten Punkt, an dem sich keine Metapher oder Assoziationen einstellen und der Besucher auf eine vorsprachliche Position zurückgeworfen wird" (102).
Im Beitrag "Architekturtheorie: Denkmal einer Krise" versucht Gleiter, Walter Benjamins berühmten Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" für die Architektur als das älteste "Massenmedium" (42) nutzbar zu machen. Die Loslösung der Architektur aus ihrer Traditionsbindung schafft ein Vakuum. "Wo für die Bewältigung der Bauaufgaben nicht mehr unreflektiert auf tradierte Vorbilder zurückgegriffen werden konnte, entstand das Bedürfnis nach Theoriebildung." (42) Gleiter unterscheidet in seiner Betrachtung drei Perioden: Die Vormoderne markiert das "Nachdenken über Architektur" (43), die Frühe Moderne steht für die "Traditionelle Theorie" (43), und die 1960er-Jahre für eine "Kritische Theorie der Architektur" (43). Kennzeichen der frühen Moderne ist die Industrialisierung, die eine "Erschütterung der Tradition" (Benjamin) bewirkt. Gropius' "Grundsätze der Bauhausproduktion" von 1926 spielen darauf an. Die 1960er-Jahre markieren schließlich eine Zeitenwende. "Wo die Architektur die Möglichkeiten des Versagens ihres humanistisch-aufklärerischen Programms mit einzukalkulieren hat, wandelt sich die traditionelle Architekturtheorie zur kritischen Theorie der Architektur." (48)
Mit "Steinsäule und Stahlträger" arbeitet sich Gleiter an zwei entscheidenden "epistemischen Objekten der Architektur, die entsprechend ihrer Zeit der Wandlung unterliegen" (56), ab. Der Gestaltwandel der architektonischen Stützelemente, nämlich der Wandel von der Steinsäule zum Stahlträger, dokumentiert gleichsam die Geschichte der Architektur. Schwere und Monumentalität weichen Leichtigkeit und Transparenz. Es ist ein "paradigmatischer Wandel des epistemischen Objekts" (66), der die Entwicklung der Moderne auch bildlich zu fassen vermag.
Reizvoll ist Gleiters Blick auf den Einfluss außereuropäischer Kulturen. Im titelgebenden Aufsatz "Urformen der Moderne: Japan" greift er Walter Benjamins "These vom urgeschichtlichen Index der Moderne" (122) aus dessen Passagen-Werk auf. Weiterhin führt er die 1854 entdeckten Schweizer Pfahlbauten an, die Le Corbusier als Urform seiner Pilotis propagierte. "Identitätsstiftend und daher exemplarisch für eine Epoche ist nur diejenige Architektur, der es gelingt, Aspekte ihrer eigenen aktuellen, avancierten Praxis in der Geschichte zu erkennen und von dort her Traditionslinien zur Gegenwart sichtbar zu machen." (127) Gleiter betrachtet in der Folge die Rezeptionsgeschichte der japanischen Baukunst, die von den Architekten bis in die 1930er-Jahre keineswegs als modern wahrgenommen wurde. Mit Bruno Taut findet die Moderne schließlich ihren Zugang. Allerdings vermisst man in diesem Beitrag den Namen Frank Lloyd Wrights, dessen Werk stark beeinflusst wurde von der japanischen Kultur.
Die zusammenfassende Klammer seiner Beiträge liefert Gleiter im Nachwort: "Die Moderne ist alles andere als geschichtsvergessen. Im Gegenteil, es ist weder ihr Drang nach vorn noch ihre formalästhetische Delinquenz gegenüber dem klassizistischen Formenrepertoire, sondern vielmehr, so die These, gerade ihre spezifische geschichtsphilosophische Denkfigur, was sie als modern auszeichnet." (144f.) Kritischen Lesern nimmt er sogleich den Wind aus den Segeln. Die Aufsätze verlangen "an einigen Stellen nach thematischer Vertiefung, größerem Detailreichtum und weitergehenden Quellenangaben". Kann man widersprechen? Auch die in Vorträgen oft hilfreiche Redundanz schlägt bei der Lektüre manchmal ein wenig durch. Und dennoch geben die erfrischend vorgetragenen Erkenntnisse und die Themenvielfalt dem Leser gemäß dem Reihentitel die Möglichkeit, in unterschiedlicher Weise Kunst und Architektur zu denken.
Ralf Dorn