Joachim Rees: Künstler auf Reisen. Von Albrecht Dürer bis Emil Nolde, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, 208 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-534-22089-2, EUR 24,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Paul John Frandsen: "Let Greece and Rome Be Silent". Frederik Ludvig Nordens Travels in Egypt and Nubia, 1737-1738, Kopenhagen: Museum Tusculanum Press 2019
Holger Kürbis / Peter-Michael Hahn (Hgg.): Schriften zur Reise Herzog Friedrichs von Sachsen-Gotha nach Frankreich und Italien 1667 und 1668. Eine Edition, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019
Achatz von Müller / Pascal Griener / Livia Cárdenas u.a. (Hgg.): Keyßlers Welt. Europa auf Grand Tour, Göttingen: Wallstein 2018
Joachim Rees: Die verzeichnete Fremde. Formen und Funktionen des Zeichnens im Kontext europäischer Forschungsreisen 1770 - 1830, München: Wilhelm Fink 2015
Winfried Siebers / Joachim Rees: Erfahrungsraum Europa. Reisen politischer Funktionsträger des Alten Reichs 1750-1800, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2005
Joachim Rees / Winfried Siebers / Hilmar Tilgner (Hgg.): Europareisen politisch-sozialer Eliten im 18. Jahrhundert. Theoretische Neuorientierung - kommunikative Praxis - Kultur- und Wissenstransfer, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2002
Joachim Rees, Kunsthistoriker an der Freien Universität Berlin, der bisher vor allem durch seinen Anteil an Spezialforschungen zu Europareisen politisch-sozialer Eliten im 18. Jahrhundert und zu den Reisen politischer Funktionsträger des Alten Reiches 1750-1800 hervorgetreten ist (Projekte des früheren Potsdamer Forschungszentrums Europäische Aufklärung), legt hier ein höchst lesbares und vergnügliches Buch für ein breiteres Publikum vor, das aus 13 in sich geschlossenen Miniaturen über die Reisen einzelner Künstler besteht: Gentile Bellini, Albrecht Dürer, Peter Paul Rubens, Wenzel Hollar, Albert Eckhout, Giovanni Lorenzo Bernini, Maria Sibylla Merian, Angelika Kauffmann, William Hodges, Karl Friedrich Schinkel, Eugène Delacroix, Paul Gauguin und Emil Nolde. Diese Miniaturen sind zwar zu Gruppen zusammengefasst und durch Überschriften locker verbunden, also gewissermaßen über verschiedene Räume eines Museums verteilt, stehen aber weitgehend unverbunden nebeneinander. Es ist tatsächlich so, dass hier nicht das Thema Künstlerreise abgehandelt wird oder die Bedeutung der Kulturtechnik des Reisens für die Kunst, auch nicht Kulturtransfer oder künstlerische Ausbildung, sondern nur einzelne Reisen einzelner Künstler dargestellt werden. Das geht so weit, dass in der Schilderung von Dürers niederländischer Reise nur am Rande erwähnt wird, dass er zuvor auch schon nach Venedig gereist war, oder bei Schinkels Englandreise, dass er bereits Italien gesehen hatte.
Die Qualität dieser Essays erschließt sich nur, wenn der Leser auf solche Art von Vollständigkeit von vornherein Verzicht leistet und sich mit dem begnügt, was geboten wird: ereignisorientierte - und, ja: auch anekdotenreiche - Erzählungen vom Leben einzelner Künstler auf Reisen in ihren verschiedenen Bezügen. Rubens etwa erleben wir als Diplomat von europäischem Format oder Albert Eckhout als Rädchen im Getriebe des Kolonialismus. Bezüglich der historischen Umstände und Einbettungen sind die Essays sehr ergiebig und umfassend orientiert: Die materiellen Umstände Dürers oder der atlantische Dreieckshandel in Bezug auf die niederländische Brasilienexpedition oder die Zusammenhänge der Suche nach der terra australis incognita (Cooks Expeditionen, an deren dritter William Hodges neben den Forsters beteiligt war) - das alles und manches andere ist kundig und sachlich richtig in die Ereignisschilderungen verwoben. Überhaupt ist der erzählerische Duktus, das faktenreiche Berichten unter Berücksichtigung einer wirkungsvollen Präsentation für wissenshungrige Leser stark ausgeprägt und rundum gelungen.
Wenn es etwas zu kritisieren gäbe, dann wäre an folgende Punkte zu denken: Die begleitenden Abbildungen sind drucktechnisch dürftig wiedergegeben und können allenfalls demjenigen, der die Bilder kennt, als Erinnerungsstütze dienen (Hier hätte sich der Verlag mehr ins Zeug legen können.) Die Literaturangaben beschränken sich meist auf drei pro Essay, und diese beziehen sich eng auf die jeweilige Einzelreise. Das bedeutet, dass der Leser über die in den letzten Jahrzehnten auch im Bereich der Künstlerreise sehr rege gewordene Reiseforschung vollkommen im Unklaren gelassen wird, weil es kein übergreifendes Literaturverzeichnis gibt. Wichtige Ausstellungskataloge wie der des LWL-Museums für Kunst und Kulturgeschichte in Münster (Orte der Sehnsucht. Mit Künstlern auf Reisen, hg. von Hermann Arnhold, Regensburg 2008) oder innovative Studien wie Christoph Otterbecks Europa verlassen. Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts (Köln /Weimar / Wien 2007) werden nicht erwähnt. Es gibt auch keine Anmerkungen und keine Nachweise zu direkten Zitaten (warum eigentlich nicht?).
Deshalb wird dieses Buch, das sich offenbar (trotz seines Erscheinungsortes: "Wissenschaftliche Buchgesellschaft"!) an einen breiteren Leserkreis richten soll und diesen auch exzellent bedient, den fachlich orientierten Leser schnell enttäuschen: Es enthält eigentlich nichts, was nicht schon bekannt wäre, und lässt im Bekannten viele Lücken. Bei der so leserfreundlichen Darbietungsform der Essayminiaturen wird völlig auf eine durchgehende Linie verzichtet: Dass sich die meisten Künstlerreisen durch die Jahrhunderte auf Italien richteten und am häufigsten der Ausbildung in der Kunst dienten, würde man kaum vermuten, wenn man so viele "besondere" Reisen von Künstlern verfolgt hat. Auch findet sich an keiner Stelle eine Rechtfertigung der Auswahl (die allerdings, das wird man zugeben müssen, sehr gelungen ist und durch die chronologische Reihung vom 15. bis zum 20. Jahrhundert auch Facetten des historischen Wandels indirekt erkennen lässt!); aber warum keine Deutschrömer, warum nicht die niederländischen Italianisten, warum nicht Paul Klee und seine Freunde in Tunis? Warum bricht die Reihe der Beispiele mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges ab? (Das erspart Reflexionen über die Emigration von Künstlern.) Warum an keiner Stelle ein Gedanke zu dem Problem, dass es absichtlich nichtreisende Künstler gab wie Rembrandt und Hogarth? Warum versandet das Buch ohne Schluss, Zusammenfassung, resümierende Argumentation oder Perspektivierung? Offensichtlich hat sich Joachim Rees nicht Künstlerreisen als Thema gewählt, sondern nur einige "Künstler auf Reisen". Aber was sich hier findet, ist glänzend geschrieben.
Michael Maurer