Hartmut Rosa / Lars Gertenbach / Henning Laux u.a.: Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2010, 208 S., ISBN 978-3-88506-667-5, EUR 13,90
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"Gemeinschaft" gehört nicht erst seit dem 20. Jahrhundert zu den historischen Grund- und Schlüsselbegriffen. Einen Querschnitt durch das moderne Gemeinschaftsdenken zu ziehen (15) - das ist der Anspruch, den das 200 Seiten umfassende, vom Jenaer Soziologen Hartmut Rosa und seinen Mitarbeitern geschriebene Taschenbuch verfolgt. Der Band aus der Reihe "Zur Einführung" des Junius-Verlags richtet sich dabei vor allem an Leser, die sich eine Orientierung über Gemeinschaftstheorien verschaffen möchten und setzt sich darüber hinaus zum Ziel, neben einem "souveränen Überblick" auch den "eigenen Standpunkt" der Autoren aufzuzeigen (5f.). Gegliedert ist das Werk in sechs Kapitel, die sich mit dem Aspekt der Gemeinschaft auf begrifflicher, zeitdiagnostischer, analytischer, funktionalistischer und politisch-ethischer Ebene sowie unter dekonstruktivistischen Gesichtspunkten auseinandersetzen. Dabei stehen die soziologisch orientierten Abschnitte im Vergleich zu den ideengeschichtlichen Kapiteln deutlich im Vordergrund. Zwar widmen die Autoren knapp 40 Seiten einer "kulturhistorische[n] Systematik des Gemeinschaftsbegriffs" (17), doch bleibt diese stark überblicksartig.
Der gewählte Titel "Theorien der Gemeinschaft zur Einführung" wird von den Autoren selbst relativiert, indem sie betonen, dass es zwar viele Überlegungen zum Gemeinschaftsbegriff, aber nur wenige Theorien gebe (11). Ebenfalls schränken die Verfasser zu Beginn ein, dass der Schwerpunkt ihrer Darstellung auf dem westlichen Kulturkreis und hier vor allem auf dem deutschen Sprachraum liege (17). Auch aufgrund der Forschungslage (176) rekurrieren die Autoren zumeist auf Großkollektive und gehen auf kleinere Gemeinschaftsformen wie etwa die Familie nur am Rande ein.
Auf wenigen Seiten handeln die Verfasser die Gemeinschaftsvorstellungen von Aristoteles und Platon ab, streifen die Philosophie Hobbes und Marx, um sich schließlich intensiver mit der "tiefen Ordnungskrise" (33) der Moderne zu beschäftigen. Die Vorstellung einer dauerhaften, das Individuum übersteigenden Gemeinschaft wird im 19. Jahrhundert zum Sehnsuchtsbegriff einer romantischen Modernismuskritik. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die von Ferdinand Tönnies entwickelte Gegenüberstellung von Gesellschaft und Gemeinschaft verstehen. Während Tönnies Gemeinschaft als dauerhafte, naturwüchsige, organische und lebendige Verbindungen von Menschen definiert, grenzt er davon die Gesellschaft ab, der er Adjektive wie temporär, künstlich, zweckgerichtet, vertraglich und mechanisch zuschreibt. Obwohl Tönnies die beiden Begriffe als soziologische Termini auseinanderhalten möchte, tritt sein Werturteil gegen die moderne Gesellschaft und zugunsten der Gemeinschaft klar hervor und entfaltet in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit über die Wissenschaft hinaus seine Wirkung. Klar und präzise arbeiten die Autoren des Bandes sowohl die Gemeinschaftstheorie Tönnies als auch die zeitgenössische Kritik Helmuth Plessners an der Gefahr eines "totalitären Denkens der Gemeinschaft" (44), sowie die Weiterentwicklung der Gemeinschaftsdefinitionen innerhalb der Soziologie des 20. Jahrhunderts heraus. Die mentale Bedeutung der Gemeinschaftsideologie für die Geschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus wird jedoch nur sehr knapp behandelt. Auch vermisst der Historiker zumindest einen Hinweis auf weitere wirkmächtige Theorien, etwa die Othmar Spanns zum Ständestaat, welche sich vor allem im katholischen Milieu der Zwischenkriegszeit einer großen Anhängerschaft erfreute.
Im Kapitel "Vom Wandel gemeinschaftlicher Beziehungen" schlagen die Autoren in feuilletonistischem Stil den Bogen zur Spätmoderne und zu neuen Formen temporärer Vergemeinschaftung, die in ihrer Bandbreite von (jugendkulturellen) Szenen bis hin zu flash mobs reichen und einem erweiterten Gemeinschaftsbegriff zugeordnet werden können. Ausgehend vom Konstruktcharakter der Gemeinschaft gehen die Verfasser den Mechanismen der Vergemeinschaftung nach und diskutieren Émile Durkheims These von der zentralen Rolle kollektiver Rituale, Ereignisse und dem Gefühl des Rausches für das Innere der Gemeinschaft (69). Daneben konstruiert - wie zu Recht betont wird - die Abgrenzung zum Anderen die Linie zwischen Innen und Außen der Gemeinschaft und spielt besonders für Bildung und Erhalt nationaler Gemeinschaften eine große Rolle.
Dem soziologisch-philosophischen Streit zwischen Liberalen und Kommunitaristen über das ontologische Primat von Individuum oder sozialen Gemeinschaften räumen die Autoren des Bandes viel Platz ein (Kommunitarismus bildet einen Forschungsschwerpunkt Hartmut Rosas) und behandeln die Thesen zahlreicher Denker beider Richtungen. Und auch den Überlegungen zum Sozialkapital wird auf zehn Seiten - im Vergleich zur historischen Theoriedarstellung sehr ausführlich - nachgegangen. Mit dem normativen Problem der Gerechtigkeit in Gemeinschaften hat sich John Rawls auseinandergesetzt. Seine auf der Denkfigur vom "Schleier des Nichtwissens" (117f.) basierende Gerechtigkeitstheorie und die Kritik daran werden von Rosa und seinen Mitautoren gründlich diskutiert. Bei der Auseinandersetzung um die Politik der Gemeinschaft geraten zahlreiche aktuelle Themen wie etwa Integration, Multikulturalismus und Minderheitenrechte ins Blickfeld der Autoren (143ff.). Ein Exkurs zu den dekonstruktivistischen Ansätzen wie der von Jean-Luc Nancy zeigt zu Ende des Bandes noch einmal einen neuen Blick auf die Frage nach der Gemeinschaft. Nancy steht dabei quer zu den beiden Denkschulen, indem er sowohl Kommunitarismus als auch Liberalismus kritisiert und die Idee des Ursprünglichen sowie der Einswerdung dekonstruiert (164f.). Für ihn kann Gemeinschaft nur in Form der Mit-Teilung gedacht und generell nicht vollendet werden (166). Damit wird auch die Frage nach dem Politischen und der Gemeinschaft im poststrukturalistischen Denken diskutiert.
Der Reihentitel des besprochenen Band "Zur Einführung" verspricht auf den ersten Blick eine knappe Einführungsliteratur, die sich etwa an Bachelorstudenten richtet und das notwendige Prüfungswissen liefert. Dass dies nicht die primäre Absicht des Buches von Hartmut Rosa und seinen Lehrstuhlmitarbeitern ist, ergibt sich bereits aus der Gliederung und dem Aufbau des Werkes. Auch die üblichen Verweise auf Einführungslektüren und weiterführende Überblicksliteratur zum Thema sucht der Benutzer des Buches vergeblich. Als Nachschlagewerk oder zum schnellen Einstieg für den unbedarften Leser bietet sich der Band kaum an. Zwar gibt es ein Sachregister - neben dem sich der Rezensent auch ein Personenregister gewünscht hätte -, doch eignet sich die Struktur mit den sechs Großkapiteln und die teilweise recht anspruchsvolle Darstellung eher für Leser mit soliden soziologischen oder philosophischen Vorkenntnissen, die im Themenfeld "Gemeinschaftstheorien" einen Einblick bekommen möchten. Dass dieser Einblick teilweise recht exkurshaft ausfällt und lediglich eine Auswahl an Theorien behandelt werden kann, ist auf der einen Seite dem disparaten Thema sowie auf der anderen Seite dem Format des Bandes geschuldet. Trotz der kritisch angemerkten Aspekte wirft das Werk zahlreiche interessante Schlaglichter auf philosophische und soziologische Überlegungen zu den Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft im 20. Jahrhundert.
Jörn Retterath