Eli Lederhendler: Jewish Immigrants and American Capitalism, 1880-1920. From Caste to Class, Cambridge: Cambridge University Press 2009, XXIII + 224 S., ISBN 978-0-521-73023-5, GBP 16,99
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Der Trend hin zur transnationalen und Globalgeschichte hat in den vergangenen Jahren die Forschung zur Geschichte der Migration in die USA weitreichend verändert. Das lange vorherrschende nationalstaatliche Paradigma und die Konzentration auf das 'Ankommen', auf Assimilation oder deren Ausbleiben, auf melting pot und salad bowl, ist einer Perspektive gewichen, die Migration sui generis untersucht, als "basic condition of human societies" [1] und dabei das Augenmerk stets auf viele Orte richtet. Das kann, um einige der wichtigsten Studien des letzten Jahrzehnts zu nennen, auf dem Wege des Vergleichs geschehen [2], es kann über eine Analyse von Diaspora und Netzwerken gelingen [3] oder die Herausbildung 'transnationaler Subjektivität' [4] zum Gegenstand nehmen.
Eli Lederhendlers Studie über die Migration russischer Juden in die USA reiht sich ein in diese 'neue' Migrationsgeschichte. Er richtet die Aufmerksamkeit gleichermaßen auf die Situation im Herkunftsland wie in den USA. Lederhendler, der Arbeiten sowohl zur Geschichte der Juden in Russland (The Road to Modern Jewish Politics, New York 1989) als auch in den USA (New York Jews and the Decline of Urban Ethnicity, 1950-1970, Syracuse 2001) veröffentlicht hat, nutzt seine Expertise, um gleich eine ganze Vielzahl von bisherigen Ergebnissen und Theoremen der Forschung zur Migration der Juden aus dem pale of settlement im Westen Russlands, in dem die jüdische Bevölkerung als Ergebnis zaristischer Politik angesiedelt wurde, zu revidieren. Für die Dramaturgie seines Vergleichs der jüdischen Existenz in Russland und in den USA ist dabei der Widerspruch zum älteren Verständnis eines "jüdischen Proletariats" in Russland zentral: Die Auflösung der vorkapitalistischen Zustände, der Verfall älterer Muster von Beschäftigung, Entlohnung und Ehre ließ eine Situation entstehen, die Lederhendler als "lack of any real standing - that is, class - and thus virtual caste status" (XXII) beschreibt. Mit der Kennzeichnung des Klassenbildungsprozess als unabgeschlossen oder blockiert entfällt die Basis für die einflussreiche "skills-transfer hypothesis", die den relativen ökonomischen Erfolg der zugewanderten Juden in den USA mit dem "neat fit" zwischen "pre-migration functions" und "post-migration conditions" erklärt hatte. Keineswegs könne davon gesprochen werden, so Lederhendler, dass Beschäftigung und Beruf in Russland die Auswanderer darauf vorbereitet hatten, "to pick up where they left off, as it were, upon arrival in their new country." (90) Mehr noch: Selbst jene, die in Russland als Schneiderinnen und Schneider beschäftigt gewesen waren, hatten aufgrund des Abstands in der Technologie Schwierigkeiten in der Anpassung an die Arbeitswelt der amerikanischen Textilindustrie.
Lederhendler argumentiert aus einem Mißtrauen gegen eine "cultural-ethnicist perspective" (X) heraus, die ihm zu sehr 'Ethnizität' mit 'Identität' in eins setzt und dabei nicht nur Gefahr läuft, essentialistisch zu argumentieren. Mehr noch verbindet sich mit einer solchen Perspektive in den Augen Lederhendlers eine zu starke Orientierung auf 'heritage', die dann die jeweils zeitgenössischen Umstände, vor allem die Realität der kapitalistischen Ökonomie und der Klassenverhältnisse in den USA, ausblendet. Genau in diesen Umständen liegen aber nach Ansicht Lederhendlers die Ursachen für die erfolgreiche Integration auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt. Das Gros der jüdischen Zuwanderer aus Russland traf genau zu einem Zeitpunkt ein, zu dem die Textilindustrie zu einem der neuen Leitsektoren der amerikanischen Massenproduktion mit enormem Bedarf an Arbeitskräften, nicht aber an "prior skills in tailoring" (46) heranwuchs. Der "real place in the pecking order" (XXIII) verhalf zu dem sozialen Kapital, das dann in der community und über sie hinaus eingesetzt werden konnte. Und nur aus den amerikanischen Umständen, nicht aber aus den kulturellen und sozialen Prägungen der russischen Zeit heraus kann Lederhendler auch die unterschiedlichen Reaktionen der jüdischen Zuwanderer auf den amerikanischen Kapitalismus erklären: die Erarbeitung des Unternehmer-Status ebenso wie die Herausbildung radikaler Gewerkschaften und einer sozialistischen Arbeiterbewegung (vor allem in New York City). Die Bereitschaft der jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter und ihrer Gewerkschaften zur trans-ethnischen Kooperation entstand aus der Einsicht heraus, "that it was not their Jewishness but their status as immigrant labor that determined their plight." (72)
Lederhendlers Studie kann als 'Beleg' für die Einsicht gelesen werden, die Marc Bloch in seiner "Apologie der Geschichte" als Sprichwort wiedergegeben hat: "Die Menschen sehen ihrer Zeit ähnlicher als ihren Vätern." [5] In seinem Ringen mit der 'Orthodoxie' der "cultural-ethnicist perspective" überzieht Lederhendler gelegentlich - sicher nicht alles, was an Mentalität unter jüdischen Zuwanderern auffindbar ist, lässt sich nur auf das amerikanische "environment" (110) zurückführen. Im Ganzen aber hat Lederhendler ein materialreiches und furioses Plädoyer für eine Rückbesinnung auf die Erkenntnismöglichkeiten einer (politischen) Sozialgeschichte der Migration vorgelegt.
Anmerkungen:
[1] Dirk Hoerder: Cultures in Contact. World Migrations in the Second Millennium, Durham 2002, XIX.
[2] Samuel L. Baily: Immigrants in the Land of Promise. Italians in Buenos Aires and New York City, 1870 to 1914, Ithaca 1999.
[3] Adam McKeown: Chinese Migrant Networks and Cultural Change. Peru, Chicago, Hawaii, 1900-1936, Chicago 2001.
[4] Ioanna Laliotou: Transatlantic Subjects. Acts of Migration and Cultures of Transnationalism between Greece and America, Chicago 2004.
[5] Marc Bloch: Apologie der Geschichte, Stuttgart 1997, 40.
Marcus Gräser