Anne Rohstock: Von der "Ordinarienuniversität" zur "Revolutionszentrale"? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957-1976 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 78), München: Oldenbourg 2010, VIII + 462 S., ISBN 978-3-486-59399-0, EUR 49,80
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Daniel Cohn-Bendit / Rüdiger Dammann (Hgg.): 1968. Die Revolte, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2007
Ingo Cornils: Writing the Revolution. The Construction of "1968" in Germany, Woodbridge: Camden House 2016
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Karin H. Grimme (Hg.): Aus Widersprüchen zusammengesetzt. Das Tagebuch der Gertrud Bleichröder aus dem Jahr 1888, Köln: DuMont 2002
Jeffrey A. Auerbach / Peter H. Hoffenberg (eds.): Britain, the Empire, and the World at the Great Exhibition of 1851, Aldershot: Ashgate 2008
Die Universität war ein zentraler Schauplatz der Studentenrevolte von 1968. Neben allgemein politischen Forderungen wurde auch diejenige nach einer Reform der Universität selbst erhoben. Deren Strukturen und Traditionen seien nicht mehr zeitgemäß und zu wenig demokratisch, lautete der Vorwurf, der in der Parole, "unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren" einprägsam formuliert wurde. Wie groß der tatsächliche Einfluss der Studentenrevolte auf die Inhalte und die Umsetzung der Hochschulreform war, die in den folgenden Jahren in fast allen Bundesländern durchgeführt wurde, und auch, welcher Stellenwert der Universitätsreform innerhalb der Revolutionsagenda von 68 zukam, misst Anne Rohstock in dieser sorgfältig gearbeiteten, auf umfangreichen Quellenstudien basierenden Arbeit aus.
Um die Bedeutung unterschiedlicher bildungspolitischer Ideen und politischer Ideologien, den Einfluss von Persönlichkeiten und Parteikonstellationen und eben denjenigen der Studentenrevolte abschätzen zu können, vergleicht Rohstock zwei Bundesländer, die die jeweiligen Eckpunkte in der politischen Bandbreite der Hochschulpolitik markieren: Das konservative, bestehende Gewohnheitsrechte respektierende Bayern und demgegenüber Hessen, das eine grundlegende Reform der Hochschulen anstrebte und bereits mit dem Hochschulgesetz von 1966 dem Hochschulrahmengesetzes des Bundes von 1976 voranging. Sie lenkt den Blick damit auf die eigentliche hochschulpolitische Akteursebene, die bislang noch kaum systematisch untersucht ist.
Die 1968 mit großer Vehemenz artikulierten Forderungen nach Demokratisierung der Universität waren der Sache nach nicht neu, sondern Teil eines lange bestehenden Reformdiskurses, den Rohstock bis zum Ende der 1950er Jahre zurückverfolgt. Man könnte hinzufügen, dass viele Ideen und Forderungen, auch diejenige nach der Beteiligung von Nichtordinarien und Studenten an der Selbstverwaltung, noch älter sind, bereits in der Nachkriegszeit erhoben wurden und teilweise bis in das preußische Kultusministerium der Weimarer Republik zurückreichen. Die Studentenrevolte, so ein Ergebnis Anne Rohstocks, war weder Ursache noch Beginn der Hochschulreform, eher ein Katalysator. Sie erleichterte die Durchsetzung der politisch lange bestehenden Ziele, insbesondere die Einschränkung der professoralen Selbstverwaltungsrechte durch Mitbestimmungsrechte der anderen Statusgruppen und damit die Abschaffung der Ordinarienuniversität, die die Universitäten demokratischer machen sollten.
Rohstock zeigt, dass Bayern und Hessen bis in die 1960er Jahre ähnliche Wege in der Hochschulpolitik beschritten. Es habe in der Bundesrepublik ein breiter gesellschaftlicher Konsens bestanden darüber, dass eine strukturelle Reform der Universitäten erforderlich sei. Die sozialdemokratische Landesregierung in Hessen verstärkte seit 1963/64 die Einflussnahme auf die Universitäten, um ihre Vorstellungen von Modernisierung und insbesondere von Demokratisierung durchzusetzen. Rohstock zeigt, wie die Reformpläne der Politik am Widerstand der Universitäten scheiterten, die nur geringe Bereitschaft zeigten, die politischen Vorgaben durch die Ausgestaltung neuer Satzungen umzusetzen.
Weniger den Einfluss der Studentenproteste als denjenigen der jeweiligen Kultusminister sieht Rohstock als entscheidend dafür an, dass die lange Zeit überwiegenden hochschulpolitischen Parallelen zwischen Bayern und Hessen endeten und an ihre Stelle sich verschärfende Gegensätze traten. In Hessen wurde 1969 der Soziologe und Bildungsreformer Ludwig von Friedeburg Kultusminister, der 1968 gemeinsam unter anderem mit Jürgen Habermas ein Hochschulgesetzmodell erarbeitet hatte. Die hessische SPD ging über das darin enthaltene Mitbestimmungsmodell noch hinaus und verabschiedete 1970 ein Universitätsgesetz, das die Drittelparität zwischen den Statusgruppen in den universitären Gremien vorsah. Demgegenüber wurde in Bayern der seit 1970 amtierende Kultusminister Hans Maier zur prägenden Persönlichkeit. Er lehnte die Drittelparität ab und stand für ein Mitbestimmungsmodell, das die Mitwirkungsrechte stufte und von der wissenschaftlichen Qualifikation abhängig machte. Neben der Reform der universitären Selbstverwaltung umfasste die Hochschulreform andere Elemente, die, darauf weist Rohstock hin, gänzlich unbeeinflusst von 1968 waren. Diese Neuerungen, die auf eine strukturelle Modernisierung zielten, wurden trotz der ideologischen Gegensätze zwischen Bayern und Hessen in beiden Ländern in ähnlicher Form betrieben. Dazu gehören die Ablösung der Rektorats- durch eine Präsidialverfassung, die Auflösung der Fakultäten und Gliederung der Universitäten in Fachbereiche, die Reform des Berufungs- und Habilitationswesens und Änderungen im Hochschulzugang.
Die Studie, entstanden im Zusammenhang eines Forschungsprojektes des Instituts für Zeitgeschichte, das nach den Auswirkungen der Studentenrevolte auf verschiedene Gesellschaftsbereiche fragt, kommt also für die Universitäten zu einem Befund, der dem Selbstverständnis und der Eigenwahrnehmung der durch '68 geprägten Generation nicht entspricht: 1968 wurden kaum neue Ideen und Forderungen erhoben, den inhaltlichen Einfluss auf die Hochschulreform schätzt Rohstock gering ein. Vielmehr nutzte die Politik die 1968 geschürte Angst vor einem gesellschaftlichen Umsturz, um den teilweise massiven Widerstand der Professoren gegen lange zuvor formulierte und in die Wege geleitete Reformvorhaben zu überwinden.
In der umgekehrten Fragerichtung nach der Bedeutung der Hochschulreform für die Revolte von 1968 kommt Rohstock zu dem Ergebnis, dass die Hochschulreform kein vorrangiges Ziel darstellte und nur einen geringen Eigenwert besaß. Die Universität war nicht das eigentliche Ziel, sondern wurde als Repräsentant und zugleich als schwächstes Glied des Staates und der bestehenden Ordnung attackiert, um deren Autoritäten zu provozieren. Die Universität schien sich als Ausgangspunkt und Zentrale der geplanten Revolution zu eignen. Rohstock weist darauf hin, dass es sich bei der insbesondere vom Sozialistischen Deutschen Hochschulbund (SDS) propagierten "Demokratisierung" der Universitäten nicht um Demokratie im Sinne des Grundgesetzes gehandelt habe, das Schlagwort sei vielmehr von Beginn an als Instrument zur Überwindung der Demokratie eingesetzt worden.
Mit dieser Studie liefert Anne Rohstock einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Ziele und der Mechanismen sowie der politischen Durchsetzung des Hochschulreformprozesses in den 1960er und 1970er Jahren, der bislang erst in Ansätzen untersucht ist. Noch immer dominieren Selbstdarstellungen und Programmschriften der Beteiligten gegenüber analytischen Darstellungen. Die Studentenrevolte ist in jüngster Zeit vor allem in Bezug auf ihre allgemeinpolitischen Ziele befragt und zunehmend als nationsübergreifendes, von den USA ausgehend sich bis nach Ostmitteleuropa fortpflanzendes Phänomen betrachtet worden. Der Blick auf konkrete Reformziele und eine zentrale Institution der bestehenden Ordnung ermöglicht es Rohstock, taktische und strategische, propagierte und tatsächliche, konkrete und allgemeinpolitische Reformziele in ihrem Stellenwert einzuordnen und damit auch zum Verständnis von 1968 einen wichtigen Beitrag zu liefern.
Barbara Wolbring