Gudrun Wedel: Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, XV + 1286 S., ISBN 978-3-412-20585-0, EUR 179,00
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Augustin Güntzer: Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert. Ed. und komm. v. Fabian Brändle und Dominik Sieber. Unter Mitarbeit v. Roland E. Hofer und Monika Landert-Scheuber, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002
Angelica Baum / Birgit Christensen (Hgg.): Julie Bondeli. Briefe, Zürich: Chronos Verlag 2012
Wer dieses umfangreiche Kompendium heranzieht, hat einen Meilenstein der Autobiographie- und Selbstzeugnisforschung in der Hand. Dieser Fortschritt geht von der Frauen- und Geschlechterforschung aus und fußt auf einem wissenschaftlichen Ansatz, der biographische und strukturgeschichtlich-quantifizierende Sozialgeschichte kombiniert mit einer textsorten- und kontextsensiblen Literaturwissenschaft. Schon diese wenigen Stichworte lassen erahnen, wie viel konzeptuelle Überlegung und wie viel handfeste Recherchearbeit in dieses vorbildlich angelegte Handbuch eingegangen sind. Dabei liegt hier nicht, wie die Verfasserin in ihren lexikographisch knappen "Hinweise[n] zur Benutzung" betont, ein abschließendes Ergebnis vor. Zugänglich gemacht wird vielmehr der aktuelle Stand ihrer Recherchen und ihrer inhaltlichen Erschließung (VII) von nicht weniger als etwa 6000 publizierten autobiographischen Schriften (IX) von Frauen aus dem deutschsprachigen Raum, die zwischen 1800 und 1900 geboren sind.
Der dauerhafte Wert dieses Nachschlagewerkes liegt in zwei Dingen: Zum einen in der schier unglaublichen Materialmenge, die hier präsentiert wird, zum anderen aber und vielleicht weit mehr noch in der Art, wie diese Schriften auch in ihrer Komplexität und Fülle erschlossen sind. In einer Datenbank sollen die hier vorgelegten Informationen zusammen mit autobiographischen Texten von Männern für das 19. und 20. Jahrhundert weiter bearbeitet werden, so dass die bahnbrechende Konzeption dieses Lexikons auch für das gesamte Feld autobiographischen Schreibens nutzbar gemacht werden soll.
Erschlossen sind die autobiographischen Schriften zunächst nach einem biographischen Zugang zu Autobiographien, indem sie für insgesamt 2241 Autorinnen einzeln aufgeführt werden. Dokumentiert wird also autobiographisches Schreiben von Frauen, das einer Verfasserin namentlich zugeordnet werden kann und durch Publikation bereits zu Lebzeiten oder später diese Person in öffentlichen Diskursen sichtbar machte; ein Anhang verzeichnet auch anonyme Texte. Wedels Anliegen war es, einen Schwerpunkt auf bisher unbekannte Autobiographinnen zu legen und damit einen auf berühmte Frauen fokussierten Kanon aufzubrechen.
Die einzelnen Artikel haben zunächst einen Teil zur Person mit Namen und Namensvarianten, Lebensdaten, Herkunftsfamilie väterlicher- und mütterlicherseits, der selbst gegründeten Familie oder Lebenspartnerschaften sowie den ausgeübten Tätigkeiten. Informationen zur Verwandtschaft finden sich dann, wenn diese Beziehungen sich auf autobiographisches Schreiben und Publizieren nachweislich ausgewirkt haben (XI). Mit diesen biographischen Daten soll die "soziale Ausgangslage" (X) des autobiographischen Schreibens greifbar werden. Von besonderer Bedeutung ist eine Unterrubrik, die "s. a." betitelt ist und zu solchen Autobiographinnen führt, mit denen persönliche Beziehungen bestanden. [1] Ansatzweise wird so ein internes Netz sichtbar, das etwa ein Drittel der Autorinnen verbindet - autobiographisches Schreiben war in mehreren Hinsichten kein einsames Unterfangen (VIII).
Im Hauptteil der Artikel werden die Texte nach einem differenzierten Raster erschlossen. Ausgangspunkt ist ein weiter Begriff von "Autobiographie" - ein Terminus, der hier nicht als enger Gattungsbegriff im Sinne eines abgeschlossenen Werkes in Buchform und mit literarischem Werkcharakter verwendet wird. Er dient vielmehr, wie heutzutage auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung zunehmend üblich, als übergreifender Begriff für eine Formenvielfalt von autobiographischen Schriften. [2] Wedel hat sich konzentriert auf Texte, die im Rückblick geschrieben wurden. Mischformen und Varianten der formalen Gestaltung stehen ausdrücklich im Mittelpunkt. 4600 Texte gehören zu dieser Hauptgruppe, davon ca. 2300 als Buch und weitere 2300 unselbständig in Anthologien, Sammelwerken, Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Angesichts der langen Entstehungsgeschichte des Lexikons war diese bereits vor Jahrzehnten getroffene Entscheidung über die mit aufzunehmenden autobiographischen Klein- und Mischformen eine Pionierleistung, die heute von den aktuellen Forschungstrends nachträglich bestätigt wird.
Neben diesen in der Rubrik "autobiographische Publikationen" aufgeführten Texten aus der zeitlichen Distanz und mit einem großen Anteil des variablen Faktors Erinnerung werden auch "weitere Selbstzeugnisse" dokumentiert, die wie Briefe und Tagebücher näher an den Ereignissen liegend verschriftlicht wurden oder von vornherein einen bestimmten thematischen Fokus besaßen wie Reiseberichte (insgesamt fast 800). Schließlich werden unter "Werke" noch weitere Texte der Autobiographinnen genannt, bei denen ein autobiographischer Bezug anzunehmen ist oder suggeriert wird (etwa 100). Hier können dann auch autobiographische Romane gelistet sein. Die Entscheidung über eine Aufnahme erfolgte also, ohne dass dem jeweiligen autobiographischen Text ein scheinbar eindeutiger Faktengehalt unterlegt oder abverlangt worden wäre, was dann zum Ausschluss von eindeutig fiktionalen Schriften hätte führen müssen. Auch hier liegt eine durch die aktuelle Selbstzeugnis- und Autofiktionsforschung mittlerweile bestätigte, aber lange Zeit überhaupt nicht selbstverständliche Entscheidung zugrunde, nämlich den Faktizitätsmodus autobiographischer Texte als Ausgangspunkt zu behandeln und damit der Tatsache Rechnung zu tragen, dass scharfe Grenzen zwischen verschiedenen autobiographischen Textsorten meist nicht gezogen werden können. Als letzte Rubrik werden "Selbstzeugnisse im Umfeld" aufgeführt (rund 700), die von Personen aus dem Umfeld der jeweiligen Verfasserin stammen. Damit zeigt sich, wie Wedel mit einem sozialgeschichtlich kontextualisierenden Blick zu Recht bemerkt, "welches Potenzial Autobiographien für netzwerkorientierte Studien besitzen können" (IX).
Das Lexikon beinhaltet den Versuch, die publizierten autobiographischen Schriften von Frauen, die im 19. Jahrhundert geboren sind, möglichst umfassend aufzubereiten und als "ein[en] bedeutende[n] Fundus und Motor gesellschaftlicher Erinnerungskultur" (VII) der weiteren Forschung zugänglich zu machen. Damit steht dieses Werk neben anderen Inventarisierungen und Erschließungen autobiographischer Texte, wie sie vor allem seit den 1980er Jahren versucht worden sind. [3] Für das 19. und 20. Jahrhundert musste ein solches Unterfangen angesichts der noch weit größeren Materialmengen als in der Frühen Neuzeit auch dann nahezu aussichtslos scheinen, wenn die Recherche sich auf Autorinnen konzentrieren sollte. Dass dieses Handbuch dennoch entstehen konnte, ist dann auch in erster Linie der Beharrlichkeit der Verfasserin zu verdanken, die sich trotz der Schwierigkeiten, für ein so langwieriges und aufwändiges Projekt auch eine entsprechende Finanzierung zu bekommen, nicht davon hat abbringen lassen.
Wie andere Inventarisierungsunternehmen, so stellt auch dieses der Forschung eine bisher nicht vorhandene Basis zur Verfügung. Sie kann die eigenen Recherchen abkürzen (aber nicht ersetzen), die Auswahl von untersuchten Texten erleichtern und deren Kontextualisierung im Feld des autobiographischen Schreibens allererst ermöglichen. Der unschätzbare Wert eines solchen Unternehmens liegt bei aller notwendig verbleibenden Unabschließbarkeit in dem qualitativen Sprung, den eine solche Grundlage für weitere Forschungen bedeutet. Schon durch die Vielzahl der nebeneinander sichtbar werdenden Texte ist ein neuer Stand erreicht, der von jedem engen und vorab definierten Kanon Abstand zu nehmen gebietet. Was Wedel in sorgfältiger Differenzierung an Formen, Inhalten, Entstehungsprozessen, Publikationsorten und -wegen dokumentiert, macht dann auch methodisch neue Wege gangbar, wie einzelne Texte, Textgruppen, Inhalte oder die schreibenden Personen bearbeitet und in ein großes und vielfältiges Feld des Schreibens über die eigene Person eingeordnet werden können. Auch generelle Aussagen über autobiographisches Schreiben von Frauen sind für den behandelten Zeitraum erst auf dieser Basis möglich. Gudrun Wedel hat dafür so ausgezeichnete Voraussetzungen geschaffen, dass die Forschung lange davon wird zehren können.
Anmerkungen:
[1] Nicht immer ist eine Beziehung auch bei beiden Beteiligten vermerkt, vgl. Adrienne Thomas und Margit von Mises; diese Informationen finden sich auch nicht alle im Personenregister, z.B. Adrienne Thomas 761 bei Olga Schnitzler. Aber solche Versehen lassen sich in der Datenbankversion leicht korrigieren.
[2] Vgl. Eva Kormann: Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert. (= Selbstzeugnisse der Neuzeit 13). Köln / Weimar / Wien 2004, 43-101 mit ausführlicher Theoriedebatte zu Gattung und Geschlecht; ferner Sidonie Smith / Julia Watson: Reading Autobiography: A Guide for Interpreting Life Narratives, 2nd ed., Minneapolis / London 2010, Appendix A: Sixty Genres of Life Narrative, 253-286. - Der Begriff der "Selbstzeugnisse" wird aktuell eher in der Geschichtswissenschaft verwendet und bezeichnet von vornherein ein größeres Spektrum autobiographischer Textsorten.
[3] Eine Liste solcher Inventarisierungsprojekte v.a. für die Frühe Neuzeit findet sich etwa bei Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. In: diess. (Hgg.): Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. (= Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung, 10). Göttingen 2005, 7-27: 11 Anm. 14.
Gabriele Jancke