Marcus Sonntag: Die Arbeitslager in der DDR, Essen: Klartext 2011, 407 S., ISBN 978-3-8375-0477-4, EUR 29,95
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Es ist wenig bekannt, dass in der DDR auch Haftarbeitslager sowie Arbeitserziehungslager existierten - neben Untersuchungshaftanstalten, Strafvollzugsanstalten, Jugendhäusern und Haftkrankenhäusern [1]. In etwa 25 Lagern (Stand von 1963) wurden tausende Inhaftierte gezwungen, oft schwere und gefährliche Arbeiten für die ostdeutsche Planwirtschaft zu verrichten, insbesondere in der metallverarbeitenden Industrie, im Braunkohletagebau sowie in der Chemiebranche. Verglichen mit den anderen Haftanstalten unterschieden sich die Lager dennoch durch etwas mildere Haftbedingungen: Hier konnten die Gefangenen bis 1962 durch Planübererfüllung ihre Haftzeit verkürzen. Um sie "bei Laune" zu halten, wurde zudem ein höherer Lohn gezahlt sowie besseres Essen ausgegeben.
Die DDR-Forschung hat sich bislang auf die Untersuchungshaftanstalten der Staatssicherheit bzw. die politischen Gefangenen konzentriert. Den weißen Fleck der Haftarbeitslager und ihrer zumeist kriminellen Insassen hat nun Marcus Sonntag zum Gegenstand seiner Dissertation gewählt. Unter einem etwas weit gefassten Buchtitel fokussiert er auf die drei Lager Sollstedt, Unterwellenborn und Regis. Trotz systematischer Herangehensweise beschreibt er Haftbedingungen und Disziplin der Aufseher in den drei Lagern eher konsekutiv als synoptisch. Die Tabellen zu den Gefangenenzahlen tragen keine Überschrift und finden sich im Kapitel über die Aufseher - offensichtlich hatte der Autor für die Lagerinsassen keinen eigenen Abschnitt vorgesehen. Delikte und Sozialstruktur der Inhaftierten bleiben dadurch etwas im Dunkeln, auch weil geeignete Quellen fehlen. Die mehrfach vorbestraften jugendlichen Insassen eines Lagers, so Sonntag, seien mit Zuckerbrot und Peitsche "nicht mehr zu beeindrucken" und für den DDR-Sozialismus weitgehend verloren gewesen (321).
Mit feinem Gespür für die Abweichungen zwischen sozialer Wirklichkeit und Normen widmet sich Sonntag intensiv den Haftbedingungen. Er verwendet das Konstrukt des "Eigen-Sinns" auch für den Strafvollzug und verwirft Gofmans Begriff der "totalen Institution", da dieser "falsche Vorstellungen von einer komplett überwachten Gesellschaft [...] weckt" (13). Denn die "Machtdurchsetzung" sei in den Haftarbeitslagern "höchst unvollständig" erfolgt (324), die Insassen hätten "gestalterischen Anteil an der sozialen Praxis" des Strafvollzugs gehabt (243) und beispielsweise mehr Arbeitssicherheit durchgesetzt. Gerade in den Haftarbeitslagern habe sich eine Subkultur gebildet, die durch illegalen Handel und Schmuggel finanziert wurde, eigenen Gesetzen folgte und deren selbstbewusster "Lageradel" sich selbst durch die Aufseher kaum kontrollieren ließ (233). Zum bislang kaum untersuchten nonkonformen Verhalten der Insassen vermag Sonntag daher einiges beizutragen; doch seine Befunde widersprechen dem theoretischen Konstrukt einer "totalen Institution" keineswegs.
Im Gegensatz zu den Lagern in anderen Diktaturen habe in den ostdeutschen Haftarbeitslagern "wenigstens das sozialistische Recht der DDR [gegolten] - wenn es auch gelegentlich und von Einzelnen mit Füßen getreten wurde" (226). Sonntag erkennt "keine systematische Erniedrigung der Insassen" und "keine geheime Absicht der Staatsführung, die Häftlinge menschenunwürdig zu behandeln" (79). Vielmehr hätten die Aufseher angeordnete Lockerungen unterlaufen. Damit unterschätzt der Autor die tägliche Willkür, zumal er selbst an anderer Stelle das menschenverachtende Kalkül der Herrschenden offen legt. Diese stuften beispielsweise nach breit angelegten Amnestien die Anforderungskriterien für die Arbeitstauglichkeit einfach herab, um wieder genügend Häftlinge in die Braunkohle schicken zu können. Sonntag benennt auch die holzschnittartige Denkweise der Machthaber, die an einen umso größeren Erziehungserfolg glaubten, je länger Gefangene zu schwerster Arbeit gezwungen würden.
Die Betriebsdirektoren sahen in den Gefangenen vor allem billige Arbeitskräfte, wenngleich sich einzelne Direktoren um Gleichbehandlung mit den anderen Werktätigen bemühten. Diese befanden sich gegenüber den Lagerleitungen im Vorteil, da sie auf die Planerfüllung verweisen konnten. Sonntag geht allein im Bezirk Erfurt davon aus, dass im Jahr 1963 die Arbeit der Häftlinge in den Kaliwerken einen scheinbaren Gewinn in Höhe von 1,5 Millionen Mark erbrachte. Da die Gefängnisverwaltung jedoch die Kosten für Bewachung sowie vorangegangene Untersuchungshaft nicht berücksichtigte, folgert der Autor zutreffend, dass der gesamte Strafvollzug bis zuletzt keine Rendite erwirtschaftete. Nicht mehr feststellen ließ sich, ob die Häftlingsbrigaden eigentlich effizienter als gewöhnliche Brigaden arbeiteten, eingedenk des allgemeinen Schlendrians.
Sonntag erinnert daran, dass bis 1969 "Arbeitsscheue" auch in der Bundesrepublik in Arbeitshäusern untergebracht wurden und im Strafvollzug noch militärische Disziplin waltete. Ende der sechziger Jahre habe sich der Strafvollzug der beiden deutschen Staaten auseinander entwickelt: Während es im Westen immer weniger Häftlinge gab und diese mehr individuelle Hilfe in sozialtherapeuthischen Einrichtungen erhielten, glaubte man in der DDR unverändert an die Formbarkeit der Menschen durch Disziplinierung. Der Autor konstatiert zwar strukturelle Unterschiede zwischen dem Strafvollzug in einer Diktatur und einer Demokratie (aufgrund freier Presse, Strafvollstreckungskammern etc.), möchte aber durch einen Vergleich mit der Bundesrepublik zu einem "ausgewogenen Urteil" kommen (353) - was freilich in diesem Fall nicht das zwangsläufige Resultat sein muss. Doch Sonntag sieht "keine grundlegenden Unterschiede" (364), sondern Gemeinsamkeiten wie das geringe Arbeitsentgelt der Gefangenen oder den hohen Alkoholkonsum ihrer Bewacher. "Erst bei genauerem Hinsehen" würden Differenzen deutlich (364) - wie zum Beispiel die volkswirtschaftlich marginale Bedeutung der Häftlingsarbeit im Westen sowie der brutale Arbeitszwang im Osten.
"Erziehung durch Arbeit" war für Sonntag zu Recht das Signum der ostdeutschen Haftarbeitslager, was jedoch eher einen Vergleich mit den nationalsozialistischen und sowjetischen Lagern nahegelegt hätte. Mit der Anatomie der Haftarbeitslager und der Wiedereingliederung Haftentlassener betritt der Autor auf erhellende Weise Neuland. Doch wegen der ungenügenden Systematik der Darstellung sowie der Leerstelle beim Thema Gefangene fällt auf Sonntags verdienstvolle Pionierarbeit neben viel Licht auch Schatten.
Anmerkung:
[1] Bislang vor allem: Uwe Bastian / Hildigund Neubert: Schamlos ausgebeutet. Das System der Haftzwangsarbeit politischer Gefangener des SED-Staates (hrsg. vom Bürgerbüro e.V.), Berlin 2003.
Tobias Wunschik