Rezension über:

Jana Nechutová: Die lateinische Literatur des Mittelalters in Böhmen. Aus dem Tschechischen übersetzt von Hildegard Boková und Václav Bok (= Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe A: Slavistische Forschungen. Neue Folge; Bd. 59), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, 371 S., ISBN 978-3-412-20070-1, EUR 49,90
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Rezension von:
Peter Orth
Institut für Altertumskunde, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Peter Orth: Rezension von: Jana Nechutová: Die lateinische Literatur des Mittelalters in Böhmen. Aus dem Tschechischen übersetzt von Hildegard Boková und Václav Bok, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/10/15002.html


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Jana Nechutová: Die lateinische Literatur des Mittelalters in Böhmen

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Die Wahrnehmung der seit dem späten 10. Jahrhundert im Osten Europas, in Böhmen, Ungarn und Polen, entstehenden mittellateinischen Literatur und mehr noch der osteuropäischen mittellateinischen Forschung wurde und wird durch sprachliche Hürden behindert. Um so mehr ist zu begrüßen, dass nunmehr ein im tschechischen Original im Jahre 2000 publiziertes Handbuch in einer bibliographisch aktualisierten deutschen Übersetzung vorliegt. Im Unterschied zu Vorläuferstudien [1] konzentriert sich Nechutová auf das lateinische Schriftgut, das in zwei chronologischen Etappen in 16 Kapiteln präsentiert wird, zunächst von den hagiographischen Anfängen im 10. Jahrhundert bis zum Ende des 13. Jahrhunderts (32-136), anschließend während der Zeit der Luxemburger (137-301); sie greift dabei nur gelegentlich in das 15. Jahrhundert aus, da Johannes Hus' Wirken als epochale Schwelle gewertet wird (22-30 zur Anlage des Bandes). Innerhalb dieser beiden Abschnitte werden Hagiographie und Historiographie, weltliche und geistliche Dichtung, die Predigt, aber auch das pragmatische Schrifttum, also Urkunden und Artes dictaminis, in eigenen Kapiteln abgehandelt, im zweiten zudem das literarische Leben im Umfeld Karls IV., erbauliche Kompilationen und spirituelle Texte des 14. Jahrhunderts wie das 'Malogranatum' und die Literatur an der Prager Universität. Manche dieser Werke sind weit über das mittelalterliche Böhmen hinaus wirksam geworden, und konsequent werden die biographischen und literarischen Verflechtungen mit dem lateinischen Westen und die Wirkungsgeschichte westlicher Texte in Böhmen von Nechutová kenntlich gemacht.

Exemplarisch herausgegriffen sei das der spätmittelalterlichen "Unterhaltungsliteratur" (im Text wird etwas unglücklich auch der Begriff "Belletristik" verwendet) gewidmete dreizehnte Kapitel (212-222), in dem mit den Sammlungen von Exempla eine Textsorte im Mittelpunkt steht, die ganz besonders von der Fluktuation der Werke und Stoffe geprägt ist. Zu Recht geht daher Nechutová auf die Rezeption und böhmische Traditionswege etwa der 'Gesta Romanorum' und des 'Speculum sapientiae' ein, man vermisst jedoch Hinweise auf neuere Instrumente der Exempla-Forschung [2] und die für Fragen der Datierung und Lokalisierung einschlägige Studie von Weiske [3]; ungewöhnlich ist auch die Namensform "Thomas von Chantimpré" (216, statt "Cantimpré"). Im Mittelpunkt steht die zahlreiche poetische Exzerpte umfassende 'Summa recreatorum' vom Ende des 14. oder Anfang des 15. Jahrhunderts, deren Aufbau sowie antike und mittelalterliche Vorlagen skizziert werden. So wird der Blick auf verwandte, nicht in Böhmen entstandene Kompilationen wie die 'Mensa philosophica' und damit auf Konrad von Halberstadt, vor allem seinen 'Tripartitus moralium' gelenkt, und hier wird die deutschsprachige Forschung angemessen berücksichtigt. Nach diesem eher assoziativen Weg werden die zentralen Begriffe 'exemplum' und 'moralisatio' erst jetzt erklärt; das Kapitel schließt mit einer knappen Liste zum Teil noch unedierter Exempla-Sammlungen böhmischer Provenienz oder Überlieferung, deren letzter Eintrag (Annulus) ohne jeglichen bibliographischen Hinweis auskommen muss.

Mag das Buch von Jana Nechutová bisweilen auch an ein Vorlesungsmanuskript erinnern, mag es stilistisch und terminologisch gewöhnungsbedürftig sein, gerade für das literaturgeschichtlich nur inselhaft erschlossene Spätmittelalter bietet es gleichwohl eine nützliche Orientierung. Eine Zeittafel (304-310), eine ausführliche Bibliographie (311-359) und ein Register der Namen und Werke, in dem unter den Rubriken "Hymnen" und "Lieder" auch Initien mitgeteilt werden (360-371), sind beigegeben.


Anmerkungen:

[1] Winfried Baumann: Die Literatur des Mittelalters in Böhmen. Deutsch-lateinisch-tschechische Literatur vom 10. bis zum 15. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; 37), München 1978, und die beiden Aufsatzbände Dominique Fliegler / Václav Bok (Hgg.): Deutsche Literatur des Mittelalters in Böhmen und über Böhmen, Wien 2001; Václav Bok / Hans-Joachim Behr (Hgg.): Deutsche Literatur des Mittelalters in und über Böhmen 2 (= Schriften zur Mediävistik; 2), Hamburg 2004.

[2] Z. B. die Enzyklopädie des Märchens, Bd. 1ff., Berlin - New York 1977ff. (zuletzt Bd. 13: 'Suchen' - 'Verführung', 2010), oder den Thesaurus Exemplorum Medii Aevi [ThEMA], online unter http://gahom.ehess.fr/ (Stand 31.8.2011).

[3] Brigitte Weiske: Gesta Romanorum, Bd. 1-2 (= Fortuna Vitrea; 3-4), Tübingen 1992.

Peter Orth