Peter Tångeberg: Wahrheit und Mythos - Bernt Notke und die Stockholmer St.-Georgs-Gruppe. Studien zu einem Hauptwerk niederländischer Bildschnitzerei (= Studia Jagellonica Lipsiensia; Bd. 5), Ostfildern: Thorbecke 2009, 171 S., ISBN 978-3-7995-8405-0, EUR 52,00
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Wer sich mit der mittelalterlichen Bildkunst des Ostseeraums befasst, stößt unweigerlich auf Arbeiten Peter Tångebergs. Sein bekanntestes Werk "Holzskulptur und Altarschrein" (2. Aufl., München 1989) fand ebenso wie sein jüngstes Werk zu den schwedischen Altarausstattungen in ihrem europäischen Kontext (Stockholm 2005) große Beachtung.
Mit dem vorliegenden Buch legt der Autor nun seine Untersuchungsergebnisse zur berühmten Stockholmer St.-Georgs-Gruppe vor.
Gleich in der Einleitung (13ff.) steht fest, worum es ihm vorrangig geht: um eine kritische Durchsicht der früheren Forschung, die allgemein von einer Zuschreibung dieses Monumentalwerks an den Lübecker Bildschnitzer Bernt Notke ausging sowie um die Frage nach seiner tatsächlichen Herkunft. Eine scheinbar kaum zu bewältigende Aufgabe, die nicht nur eine unübersehbare Zahl an kunstgeschichtlichen Arbeiten zu diesem Stück zu berücksichtigen hat, sondern auch eine genaue Kenntnis der Notkewerkstatt und die gründliche Analyse ihrer Umgebungsbedingungen, der Kunst des Ostseeraums im späten Mittelalter voraussetzt.
Nach einer kurzen Einführung mit der Beschreibung des Triptychons in Djursdala, Småland, als "Modellbeispiel für das Bild von der spätmittelalterlichen Kunst" (17) geht Tångeberg auf das "Problem der Lübecker Holzskulptur - am Beispiel des Hl. Hieronymus in der Klosterkirche zu Vadstena und des Flügelaltars in Rytterne" (21-24) ein. Zunächst stellt er zu Recht die bisweilen gebräuchliche Übereinstimmung von Kunstvorkommen und Kunstproduktion in Frage - die alte Vorstellung, "dass in Lübeck erhaltene Kunstwerke auch dort hergestellt und von dort ausgeführt worden seien" (21); er zweifelt an der Annahme, dass Werke von überragender künstlerischer Qualität automatisch Lübecker Werkstätten zugeschrieben werden müssen.
Nach einem Forschungsüberblick zu den Werkstattverhältnissen Lübecks (Das Genie und seine Werkstatt: Wandel und Beharrung im Notke-Bild der Forschung, 24-33) begründet er seinen Zweifel an dem allgemein geltenden Attribut Notkes als 'Meister der monumentalen Maße' (33ff.). Tångeberg schreibt: Es "tragen die erhaltenen großen Formate in Lübeck und Århus auch nichts dazu bei, die Autorenschaft Notkes für den überlebensgroßen Hl. Georg in Stockholm (Körperlänge 228 cm) zu untermauern" (35).
Nur folgerichtig bietet er dann im zweiten Kapitel einen Katalog mit gesicherten Notke-Werken. Seine Untersuchung nach Qualität, Stil und Werkstattorganisation (39-46) wird umso wichtiger, je mehr bewusst wird, dass Notke weder als Künstler, noch seine Leistung als Maler oder Bildschnitzer überhaupt in irgendeiner zeitgenössischen Quelle genannt werden. Seine technologischen Beobachtungen und Vergleiche mit der niederländischen Kunst (45) belegen darüber hinaus, dass Notke als ausübender Künstler nicht eindeutig greifbar ist.
Das zentrale dritte Kapitel ist der eingehenden Werkanalyse der Stockholmer St.-Georgs-Gruppe gewidmet (47-95). Einer Einführung zu schwedischen Bestellern und europäischen Produzenten in den 1480er-Jahren (47-50) folgt die eigentliche Darstellung des Werks. Tångeberg führt eine gründliche Bestandsaufnahme durch. Von einem Kunsthistoriker und Restaurator nicht anders zu erwarten, fließen hier die Ströme der Kunsttechnologie und Stilkritik zusammen. Mit systematischer Sorgfalt dokumentiert er Typen, Motive, Stil; Realismus und Stilisierung: Drache, Erdreich, Lamm; Gesichter und Frisuren; Trachten, Blätter, Falten; Rüstung und Pferdegeschirr; Edelsteine und Goldschmiedewerk; Gravierungen, Sgraffitomuster und Marmorierungen; Fremdmaterialien und die Szenen der Reliefs im Sockel. Dabei führt er den Blick zu den entlegensten Details, zeigt mit bloßem Auge kaum erfassbare Blickwinkel. Seine Beobachtungen stellt er vergleichbaren Werken der Tafelmalerei und Druckgrafik gegenüber und belegt damit in überzeugender Weise seinen eingangs formulierten Zweifel an einer Zuschreibung dieses Werks an Bernt Notke.
Doch macht Peter Tångeberg mit diesem Ergebnis nicht halt. Seine Suche nach dem Schöpfer der St.-Georgs-Gruppe beginnt er im vierten Kapitel mit einer vergleichenden Übersicht niederrheinisch beeinflusster Kunstwerke im Ostseeraum wie das Retabel der Revaler Heilig-Geist-Kirche, das Retabel aus Skellefteå oder Enånger. Einen weiteren Kreis zieht er mit Vergleichen niederrheinischer und speziell Brüsseler Werken heran.
Wichtiger und für die weitere Überlegung nach der Spur zum Schöpfer dieses großartigen Werkes ist Peter Tångeberg die schriftliche Überlieferung (117). Eingebettet in die geschichtlichen Verhältnisse der Zeit verhelfen ihm quellenschriftliche Hinweise wie im Sveopentaprotopolis von 1611, der Stockholmer Chronik des Johannes Messenius oder des Stockholmer Diarium fratrum minorum des Jahres 1489 schließlich dazu, eine Werkentstehung in den südlichen Niederlanden oder Antwerpen anzunehmen (118f.). Doch auch wenn der Autor am Ende eine Werkstatt für die St.-Georgs-Gruppe in der Stora Kyrka zu Stockholm nicht namentlich dingfest machen kann - seine Arbeit ist mehr als die bloße Entzauberung eines prominenten und von der Kunstgeschichtsforschung offenbar immer wieder falsch beurteilten Werkes - es ist die fachübergreifende und für den Autor erschöpfende Inventur, Stand 2011.
Eine (viel zu kurz geratene) Zusammenfassung in schwedischer Sprache sowie ein Tafelteil mit eindrucksvollen Farbaufnahmen von Ricard Sundström würdigen das Werk in angemessener Form. Dass im Literaturteil einige jüngere Forschungen zur Skulptur des Ostseeraums sowie zur methodischen Kombination von Kunsttechnologie und Kunstgeschichte fehlen, ist dem reichen Ertrag dieser Arbeit überhaupt nicht abträglich. Mit einem Personenregister sowie einem Register der Orte und Werke reiht sich dieses Buch wiederum in die Bibliografie wichtiger Standardwerke zur spätmittelalterlichen Skulptur Nordeuropas.
Burkhard Kunkel