Franz-Josef Brüggemeier: Geschichte Grossbritanniens im 20. Jahrhundert (= Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert), München: C.H.Beck 2010, 463 S., ISBN 978-3-406-60176-7, EUR 39,95
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Die Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert ist von Historikern unterschiedlich gedeutet worden. Aus deutscher Perspektive erschien sie lange als Stabilitätsgeschichte einer erfolgreichen Demokratie, an der sich der deutsche Sonderweg messen lassen musste. Erst in jüngster Zeit sind die problematischen Aspekte einer von Klassengegensätzen geprägten, zwischen Armen und Reichen polarisierten Gesellschaft stärker ins Zentrum des Interesses gerückt. Britische Historiker interpretierten die Entwicklung ihres Landes zwischen 1900 und 2000 oft als eine Zeit relativen Niedergangs, geprägt von der Auflösung des Weltreiches und vom Verlust der Rolle als führender Industrienation. Dagegen ist in den letzten Jahren wieder verstärkt eine Fortschrittsgeschichte betont worden, die auf Zuwächse an Lebensqualität, politischer Mitsprache, kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten und materieller Sicherheit für die Bevölkerungsmehrheit im Verlauf des 20. Jahrhunderts abhebt.
Franz-Josef Brüggemeier, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Freiburg, hat eine andere Sichtweise gewählt. In seiner Überblicksdarstellung, die im Rahmen der von Ulrich Herbert herausgegebenen Reihe "Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert" erscheint, stellt er Großbritannien als ein im europäischen Vergleich besonders modernes Land vor, in dem wichtige ökonomische, soziale, politische und kulturelle Entwicklungen früher stattfanden als auf dem Kontinent. Weil der Autor die dunklen Seiten der Moderne nicht ausblendet und herausstellt, dass der Vorsprung sowohl Vorzüge als auch Nachteile mit sich brachte, vermeidet seine Darstellung die blinden Flecken einer whiggistischen Fortschrittsgeschichte ebenso wie die nostalgische Vergangenheitsverklärung der Niedergangshistorie. Negative Folgen hatte die Vorreiterrolle laut Brüggemeier insofern, als sich in Großbritannien wichtige historische Prozesse über größere Zeitspannen hinzogen, so dass erst spät erkennbar war, welche Bedeutung sie besaßen und wohin sie führten. Konflikte dauerten deswegen oft länger, waren aber in der Regel auch weniger heftig, weil mehr Gelegenheit blieb "sich an Veränderungen anzupassen und Reformen vorzunehmen" (22).
Dieser Erklärungsansatz hat den Vorteil, eine breit angelegte Gesamtdarstellung der britischen Politik-, Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte über mehr als hundert Jahre zu integrieren, ohne die Erzählung in ein allzu enges Korsett zu zwängen. Der Leitgedanke ist nicht in allen Passagen gleichermaßen präsent. Viele Teilbereiche werden souverän, deutungssicher, eher handbuchartig und ohne direkten Bezug zum zentralen Deutungsmuster abgehandelt. Zugleich aber verfügt die These vom britischen Modernitätsvorsprung über genug Strahlkraft, um zentrale Aspekte des historischen Geschehens zu erhellen. Der früh durchgesetzte Vorrang des Parlaments, der mit einer im Vergleich zur deutschen Geschichte verlangsamten Demokratisierung einherging, hilft sowohl die Überlebensfähigkeit des britischen politischen Systems als auch die Beharrungskraft seiner Eliten zu verstehen (der gegenwärtige Premierminister ist nicht nur wie mehrere Kabinettsmitglieder ein Zögling der Traditionsinstitutionen von Eton und Oxford, sondern auch ein illegitimer Nachkomme König Wilhelms IV., der von 1830 bis 1837 herrschte). Die frühzeitige Industrialisierung und der eher als andernorts erfolgte Übergang zu vorwiegend städtischen Lebensweisen erklären den im internationalen Vergleich bis nach 1945 hohen Lebensstandard, aber auch die Brachialgewalt, mit der im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die industrielle Fertigung von den britischen Inseln verschwand.
Überzeugend weist Brüggemeier die britische Pionierrolle bei der Herausbildung einer Konsum- und Freizeitkultur nach, die in Form von Music Halls, Reklameplakaten und Boulevardzeitungen schon vor dem Ersten Weltkrieg weite Teile des öffentlichen Lebens bestimmte und in der Folgezeit prägend blieb - bis hin zur Popkultur der Swinging Sixties (gleichsam programmatisch sind nicht Winston Churchill oder Königin Elisabeth II. auf dem Schutzumschlag zu sehen, sondern Paul McCartney von den Beatles). Etwas unklar bleiben die sozialen Folgen des Siegeszugs moderner Konsumkultur. Auf der einen Seite zitiert der Autor zustimmend George Orwells Prophezeiung von 1944, ein nationaler Verbrauchermarkt mit preiswerten, standardisierten Waren werde zusammen mit Radio, Kino und Massenpresse innerhalb kurzer Zeit eine klassenlose Gesellschaft herbeiführen. Wenig später erklärt er, "jenseits der Angleichungen, die Wirtschaftswachstum, Wohlfahrtsstaat und Konsum bewirkten", seien die "Gegensätze zwischen den Klassen" dauerhaft greifbar geblieben (292) - und zwar offenbar stärker als anderswo in Europa.
Hier wird deutlich, dass die britische Entwicklung der vergangenen hundert Jahre nicht immer in das Koordinatensystem passt, das Reihenherausgeber Herbert für seine "Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert" erdacht hat. Die westeuropäischen Gesellschaften, schreibt Herbert im Vorwort, seien einander seit den 1960er Jahren immer ähnlicher geworden, "und zwar in Bezug auf das politische System, die soziale Ordnung, die kulturellen Wertorientierungen ebenso wie hinsichtlich der Wirtschaftsordnung und des Alltagslebens" (9). Im Hintergrund steht der Gedanke einer vor rund fünfzig Jahren einsetzenden "Fundamentalliberalisierung". Diese Sichtweise ist an einer bestimmten Lesart der deutschen Geschichte orientiert, die den positiven Veränderungsschub der Jahre um 1968 betont. Sie erscheint schon für die westdeutsche Entwicklung diskussionswürdig und führt im britischen Fall zu erheblichen konzeptionellen Kalamitäten.
Das wird an den fünf Querschnittskapiteln deutlich, die in allen Bänden der Reihe zu etwa gleichen Zeitpunkten die diachrone Erzählung unterbrechen sollen. Die Einschübe um 1900, Mitte der 1920er Jahre und im Zweiten Weltkrieg fügen sich hervorragend in Brüggemeiers Darstellung, die Einschnitte Mitte der 1960er Jahre und nach 1990 jedoch nicht. Deswegen schiebt der Autor seine Betrachtung über "Großbritannien um 1965" nach dem Kapitel über die Jahre 1961 bis 1979 ein und behandelt darin Entwicklungen die etwa bei den Themen Umwelt oder Wertewandel bis in die unmittelbare Gegenwart reichen. Den Querschnitt nach 1990 lässt er aus. Die Gliederungsprobleme rühren zum Teil daher, dass sich in der britischen Zeitgeschichtsschreibung die Regierungsübernahme durch Margaret Thatcher 1979 als Zäsur etabliert hat - und nicht "1968". Für Großbritannien waren die krisenhaften 1970er Jahre in ihrer Transformationswirkung wichtiger als die beschwingten 1960er.
Im Vereinigten Königreich erschöpfte sich die europaweite Strukturkrise nach dem Boom nicht wie andernorts in kleineren wirtschafts-, sozial- und verfassungspolitischen Anpassungen, sondern führte zu einer radikalen Umformung des Koordinatensystems. Das wird letztlich auch in Brüggemeiers ebenso konzisen wie abgewogenen Ausführungen deutlich. Auf Herberts These von der allmählichen Angleichung der politisch-kulturellen und sozioökonomischen Verhältnisse ließe sich mit der gegenteiligen Behauptung antworten, dass in den 1980er und 1990er Jahren eine spezifische Sonderentwicklung Großbritanniens im 20. Jahrhundert kumulierte. Nicht zufällig wurde die konfrontative Politik des Thatcherismus in einem Land praktiziert, das im 20. Jahrhundert so geringe Erfahrungen mit ideologischem Aufruhr und politischer Gewalt gemacht hatte wie kein anderer europäischer Staat, während etwa in Deutschland oder Frankreich die Erinnerung an die Folgen weltanschaulicher und sozialer Polarisierung mäßigend wirkte. Jedem, urteilte Tony Judt in seiner großen europäischen Nachkriegsgeschichte, der im England des Jahres 1978 eingeschlafen und zwanzig Jahre später erwachte wäre, müsste das Land fremd erscheinen: "völlig anders als es einst war - und deutlich verschieden vom Rest Europas" [1].
Anmerkung:
[1] Tony Judt: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, München, Wien 2006, 625.
Dominik Geppert