Stephanie Cooke: Atom. Die Geschichte des nuklearen Zeitalters, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010, 560 S., ISBN 978-3-462-04198-9, EUR 24,95
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Stephanie Cooke datiert die Geburtsstunde des nuklearen Zeitalters auf den 6. August 1945. Mit der Zündung der amerikanischen Atombombe "Little Boy" über der japanischen Stadt Hiroshima, gefolgt von einem zweiten Abwurf der noch stärkeren "Fat Man" auf Nagasaki am 9. August, wurde der Zweite Weltkrieg faktisch beendet und das nukleare Zeitalter eingeleitet. Zum bestimmenden Moment dieser neuen Ära, so die Grundthese des Buchs, sei die Verschränkung von militärischer und ziviler Nutzung der Atomenergie geworden. Atomwaffen und Atomkraftwerke seien zwei Seiten einer Medaille, die nicht voneinander zu trennen sind und nur zusammen betrachtet verstanden werden können.
Die Autorin schreibt dies als Insiderin der Atombranche. Cooke begann 1977 als Journalistin für die Nachrichtenagentur Associated Press zu arbeiten, bevor sie Anfang der 1980er Jahren zum Medienunternehmen McGraw-Hill nach New York wechselte, um für Branchenmagazine wie Nucleonics Week oder NuclearFuel Lobbyarbeit zu leisten. Mitte der 1980er Jahre ging sie nach London und begann als freie Journalistin unter anderem über die Katastrophe von Tschernobyl zu berichten. Seit ihrer Rückkehr in die USA 2004 arbeitet sie für die Energy Intelligence Group und schreibt für das Bulletin of the Atomic Scientists.
Radioaktivität hat seit ihrer Entdeckung Ende des 19. Jahrhunderts die Phantasie der Menschen beflügelt. Zum Nuklear-Optimismus der Zwischenkriegszeit gesellte sich bald das Bewusstsein von der enormen Zerstörungskraft, die im Atomkern gespeichert ist. Diese fatale Dialektik verfestigte sich in der Tatsache, dass auf die beiden militärischen Einsätze im August 1945 ab den 1950er Jahren zwar die zivile Nutzung von Atomenergie folgte, letztlich aber auch in der Absicht, waffenfähiges Plutonium bereitzustellen und nicht primär zur Gewinnung von Energie. Cooke stellt sich in der Einleitung die Aufgabe, Licht ins Dunkle dieser undurchsichtigen Verschränkung von militärischer und ziviler Nutzung zu bringen und dadurch zu erklären, warum sich die Zukunftshoffnung von der friedlichen Bändigung von Atomkraft als Illusion erwiesen hat (32).
Was sie auf den folgenden gut 500 Seiten Text entfaltet, ist eine Kriminalgeschichte von Korruption, Vertuschung, Spionage und Unfällen. Cooke deckt zwar keine neuen Fälle auf, mit der Spürnase einer Journalistin und dem aufmerksamen Ohr einer Ethnologin gelingt es ihr aber, hinter die Kulissen der Atomwirtschaft zu blicken. So zum Beispiel im Fall von Forschungsdörfern wie dem britischen Atomic Energy Research Establishment in der Nähe von Oxford, in dem Wissenschaftler und ihre Familien nach Ende des Zweiten Weltkriegs abgeschieden von der Außenwelt lebten und forschten. Cooke erzählt die Geschichte dieser ehemals geheimen Siedlungen aus der Sicht einer der Ehefrauen und entwirft so eine Art "Geschichte von unten" des Kalten Krieges (95-105). Diese Nähe zu den Akteuren ist stilprägend für das Buch - Cooke lässt die beteiligten Menschen zu Wort kommen, in vielen Fällen eher die Opfer und am Rande Beteiligten als die eigentliche Akteure und Strippenzieher. Auf diese Weise verwebt sie die technologische und weltpolitische Entwicklung mit den gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen des nuklearen Zeitalters.
Über weite Strecken liest sich das Buch wie das Drehbuch eines Thrillers, etwa wenn Cooke ausführt, wie die USA Indien Anfang der 1970er Jahre zu einem eigenen Nuklearprogramm und damit entgegen der Bemühungen um Nichtverbreitung zu Atomwaffen verhalfen. Für Cooke ist dies ein paradigmatisches Beispiel für die Grauzone zwischen ziviler und militärischer Nutzung von Kernenergie und die Verschränkung von politischen und industriellen Interessen (308-315). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt sie bei ihren Recherchen zu Pakistan. Cooke rekonstruiert, wie es Abdul Qadeer Khan, dem "Vater des pakistanischen Atomwaffenprogramms", seit Mitte der 1970er Jahre gelang, mit seinem in den Niederlanden erworbenen Wissen ein Urananreicherungsprogramm in Pakistan auf die Beine zu stellen. Dass dies spätestens seit der sowjetischen Invasion Afghanistans im Dezember 1979 durch CIA und U.S.-Regierung stillschweigend toleriert wurde, ist keine neue Erkenntnis - Cooke spannt den Bogen aber bis zur jüngsten Vergangenheit und zeigt, welche Folgen dabei für den gesamten Mittleren Osten in Kauf genommen wurden und wie pakistanische Technologie Nordkorea zur Bombe verhalf (342-351).
Ausführlich widmet sich Cooke den beiden Reaktorunfällen im amerikanischen Kraftwerk Three Miles Island am 28. März 1979 und im ukrainischen Tschernobyl am 26. April 1986. So unterschiedlich die beiden Ernstfälle und die Rahmenbedingungen gewesen sein mögen, Cooke findet Parallelen im unbedingten Glauben an die Verlässlichkeit von Technik, im menschlichen Versagen und in den Versuchen, die Unfälle zu verharmlosen und zu vertuschen. In den anschließenden Kapiteln entlarvt die Autorin den Mythos von Kernenergie als saubere Energiequelle als PR-Lüge einer mächtigen Nuklearindustrie, die auch ungeachtet der beiden Unfälle weiterhin propagiert wurde (411-421). Im Gegensatz dazu charakterisiert sie die Internationale Atomaufsichtsbehörde IAEO als letztlich befugnislose Organisation und kommt zu dem - vor Fukushima verfassten - Schluss, dass das Ende des nuklearen Zeitalters trotz aller Gefahren und Risiken nicht in Sicht ist (480).
Das Buch bietet insgesamt viel Ereignisgeschichte, ist packend geschrieben und lässt die recherchierten Fakten für sich sprechen. Wie eine journalistische Reportage zeichnet es sich durch viel Atmosphäre, Blick für Details und Nähe zu den Akteuren des nuklearen Zeitalters aus. Das Buch ist das Ergebnis von Cookes fast 30-jähriger Berichterstattung über nukleare Themen und reflektiert ihren eigenen Wandel von der Lobbyistin zur kritischen Journalistin. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie sich dem Thema verpflichtet fühlt, schreibt oft in der ersten Person und suggeriert keinen absolut neutralen Standpunkt. Dies nimmt dem Buch nichts von seiner Überzeugungskraft, es will ja in erster Linie aufrütteln und aufklären, nicht aber wissenschaftliche Diskussionen anstoßen.
Philipp Baur