János Kalmár / János J. Varga (Hgg.): Einrichtungswerk des Königreichs Hungarn (1688-1690) (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa; Bd. 39), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, 514 S., ISBN 978-3-515-09778-9, EUR 68,00
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Die anzuzeigende Quellenedition des "Einrichtungswerks des Königreichs Hungarn" hat eine lange und geradezu tragische Geschichte. Der ungarische Rechtshistoriker Béla Baranyai (1881-1945) sammelte bereits in den 1920er Jahren Material für eine kritische Edition dieses Plans zur administrativen Neuordnung Ungarns nach der Wiedereroberung von den Türken. Baranyai konnte die Arbeit vor seinem Tod nicht vollenden, doch diente ein Druckabzug als Basis für eine Weiterführung des Projektes nach dem 2. Weltkrieg. In den 1950er Jahren hielt der Ungarische Historische Verein, der die Edition angeregt hatte, die Publikation "nicht für zeitgemäß" (81). Ein erneuter Anlauf dreißig Jahre später endete mit dem Tod des maßgeblichen Bearbeiters László Benczédi. Erst den Herausgebern des vorliegenden Bandes, János Kalmár und János J. Varga, ist es gelungen, diese maßgebliche Quelle der frühneuzeitlichen ungarischen und habsburgischen Geschichte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Knapp einhundert Jahre nach Theodor Mayers Edition des "Compendiums der haubtrelation über die einrichtung deß königreich Hungarn" [1], liegt damit erstmals der vollständige Text des Einrichtungswerkes vor. Als Textbasis dient Baranyais Aufnahme des Entwurfs und der originalen Reinschrift, die 1927 beim Brand des Wiener Justizpalastes vernichtet wurde. Fehlende Stellen wurden aus einer Abschrift ersetzt. Die ca. 500 Manuskriptseiten ergeben gut 160 Druckseiten (85-246). Es folgen die im Original beigegebenen Anlagen, großteils königliche Erlasse der vorangegangenen Jahrzehnte, jedoch auch die Beschwerden der ungarischen Protestanten und ein eigenständiger Einrichtungsplan des Palatins Pál Esterházy (247-326).
Das Einrichtungswerk wurde von einer siebenköpfigen Subkommission unter Leitung des Grafen Leopold Kollonich (1631-1707) konzipiert. Als ehemaliger Präsident der ungarischen Kammer in Pressburg war der Bischof von Raab und spätere Erzbischof von Gran ein hervorragender Kenner der ungarischen Verhältnisse. Die Vorschläge der Subkommission wurden in einer mit der "Einrichtung der neuen Acquisten" betrauten Hauptdeputation beraten und verabschiedet. Deren Sitzungsprotokolle von März 1689 bis August 1690 sind ebenfalls ediert (329-376). Das Ergebnis dieser Sitzungen bildet schließlich das für den Kaiser zusammengestellte "Compendium", eine Kurzfassung des Einrichtungswerkes mit den jeweiligen Voten der Hauptdeputation, das hier in der Version Mayers wieder abgedruckt ist (377-417). Als Vergleichsfolie dient das so genannte "Ungarische Einrichtungswerk", ein von ungarischen Magnaten formulierter Vorschlag, der die (Re-)organisation des Landes ganz auf ständischer Basis vorsah (418-435). Zuletzt folgen einige Aktenstücke zur Arbeit der Subkommission (437-458).
Die Quellenedition wird eingerahmt von zwei Texten der Herausgeber zur Einordnung des Einrichtungswerkes. János J. Varga bietet in seiner ausführlichen Einleitung (9-83) zunächst einen gerafften Überblick über die ungarische Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts und die politischen, ökonomischen und demographischen Folgen der Türkenzeit. Es folgen die Entstehungsgeschichte des Einrichtungswerkes, eine Zusammenfassung der Vorschläge in den fünf Bereichen (Iustitiarum, Ecclesiasticum, Politicum, Militare, Camerale) sowie ein Abriss der Versuche ihrer Verwirklichung. Letztlich scheiterte das Einrichtungswerk als Ganzes am Widerstand sowohl des ungarischen Adels als auch der habsburgischen Militärs, nachdem die Subkommission deren Verhalten vor allem in Fragen der Einquartierung und Kriegssteuereintreibung scharf kritisiert hatte. Gleichwohl wurden einige Vorschläge verwirklicht, insbesondere die Umorganisation der Ungarischen Kanzlei. Als größten Erfolg Kollonichs kann man die Schaffung einer unierten griechisch-katholischen Kirche zur Integration der orthodoxen Bevölkerungsteile ansehen.
Den interessantesten Teil der Einleitung bildet die Einbettung des Einrichtungswerkes in den Kontext paralleler Vorschläge zur Neuordnung des (wieder-)eroberten Landes. Varga behandelt drei Konzepte ungarischer Adliger, denen die Erhaltung der ständischen Macht und Freiheiten und damit die Zurückweisung österreichischer Einflussnahme gemein ist. Zwei dieser Texte, Pál Esterházys persönlicher sowie der darauf aufbauende "Ungarische" Einrichtungsplan, sind im Band ediert. In die gleiche Richtung ging ein 1699 in der Ungarischen Kanzlei entstandenes "Proiectum", das ebenfalls eine separate, ausschließlich vom König abhängige ungarische Regierung vorschlug. In entgegengesetzter Richtung argumentierten Johann Nikolaus Flämitzer und der Genueser Angelus Gabriel. Nach Flämitzer hatten die ungarischen Adligen ihre Rechte als Aufständische verwirkt und Leopold I. verfüge dort über eine uneingeschränkte Macht. Auch Gabriels "Il Governo dell' Ongaria" setzte sich die Auflösung der bestehenden Verhältnisse und einen vollständigen Neuaufbau ohne Einfluss der Stände zum Ziel. Letztlich erwiesen sich solche Projekte als zu radikal um in Wien ernsthaft in Betracht zu kommen.
So spannend die Gegenüberstellung dieser Konzepte ist, vermisst der Leser in Vargas Text doch eine weitergehende Einordnung. Einige Fragen, die den Fall der Neueinrichtung für die gemeineuropäische Geschichte interessant machen, bleiben implizit und damit unbeantwortet: Wie wurde eine völlige Neuordnung des Staates im späten 17. Jahrhundert gedacht? Was war in der konkreten Situation überhaupt möglich, was von der Staatsspitze gewollt? Mit welcher politischen Semantik operierten die Gegner und Verteidiger der ständischen Freiheit? Der ideengeschichtliche Entstehungskontext dieser Texte wird schematisch dargestellt, etwa mit kurzen Hinweisen auf das Naturrecht und die Wiener Kameralisten. Hier hätte man auf Basis der profunden Quellenkenntnis konkretere Hinweise erhofft.
Im abschließenden Aufsatz wendet sich János Kalmár der Wirkungsgeschichte des Einrichtungswerkes zu. Die nach 1717 erfolgte Einrichtung des Temeswarer Banats als direkt von Wien aus regiertem Gebiet ist häufig als späte Übernahme der Prinzipien des Einrichtungswerkes verstanden worden. Kalmár kann jedoch zeigen, dass keine direkte Linie vom Einrichtungswerk zum Banat führt. Vielmehr hatte das Einrichtungswerk gerade versucht, die Neuordnung Ungarns auf Basis der hergebrachten Verfassung zu bewerkstelligen. Insofern kann die Einrichtung des Banats eher als Folge des (aus Wiener Sicht) Scheiterns dieser Kompromisslinie angesehen werden.
Insgesamt stellt die Edition des Einrichtungswerkes einen höchst erfreulichen Abschluss langjähriger Bemühungen dar. Dabei überzeugt insbesondere die Aufnahme der beigegebenen Anlagen und Aktenstücke, etwa die ungarischen Gegenvorschläge und die Beratungsprotokolle der Hauptdeputation. All diese lösen das Einrichtungswerk aus dem Status eines Einzelprojekts heraus, indem sie einen ganzen Debattenkontext in Quellenform verfügbar machen. Insofern dürfte das Werk nicht nur für die Geschichte der habsburgischen Herrschaft in Ungarn, sondern auch für vergleichende Arbeiten zu einem wichtigen Arbeitsinstrument werden.
Anmerkung:
[1] Theodor Mayer: Verwaltungsreform in Ungarn nach der Türkenzeit, Sigmaringen 21980 [Erstausgabe 1911].
Justus Nipperdey