Nicolas Berg / Omar Kamil / Markus Kirchhoff et al. (Hgg.): Konstellationen. Über Geschichte, Erfahrung und Erkenntnis. Festschrift für Dan Diner zum 65. Geburtstag, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 448 S., 9 Abb., ISBN 978-3-525-30031-2, EUR 59,95
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Dan Diner zählt derzeit zweifellos zu den bekanntesten und profiliertesten Historikern, dessen Arbeiten aus der deutsch-jüdischen Geschichtswissenschaft nicht wegzudenken sind. Zu seinem 65. Geburtstag wurde Diner mit einer Festschrift beschenkt, der zweiten. Kreiste die Festschrift zu seinem 60. Geburtstag um das breit gelagerte Thema von "jüdischer Geschichte als Allgemeiner Geschichte" [1], so wendet sich der jetzige Band methodischen Fragen von "Geschichte, Erfahrung und Erkenntnis" zu. Der Haupttitel Konstellationen indiziert zugleich, dass diese Trennung von Theorie und Gegenstand nicht fixiert werden kann, sondern vielmehr in Schwingung gebracht werden muss, um sowohl historisches Geschehen mit methodischem Erkenntnisgewinn und subjektiven Erfahrungen zu vermitteln.
Insgesamt 22 Beiträge wurden in vier thematische Sektionen unterteilt, die große Topoi Diners repräsentieren: Wissen und Säkularisierung, Historische Narrative, Politik und Recht, Wahrnehmung und Gedächtnis. Innerhalb dieser Felder würdigen die Beitragenden durch ihre eigenen Essays die Arbeiten des Jubilars.
Für die an Quellen im geschichtswissenschaftlichen Sinne orientierten Essays, lässt sich sagen, dass sie detaillierte Einsichten in Konstellationen präsentieren, anhand derer auf Signifikanten der Erfahrung der Moderne reflektiert werden kann. Dazu gehört die Mehrzahl der Texte, angefangen von Arndt Engelhardts Würdigung des Historikers und Sozialwissenschaftlers Koppel S. Pinson, Natasha Gordinskys Porträt der Dissonanzen in den Aufzeichnungen der israelischen Lyrikerin Leah Goldberg während ihrer offiziellen Reise in die Sowjetunion, über Marcos Silbers Darstellung der auseinanderdriftenden Perzeptionen und politischen Ambitionen in Wilnaer Stadtführern der späten 1930er Jahre. Dirk Blasius examiniert die Rede Carl Schmitts auf dem deutschen Juristentag 1934 hinsichtlich ihrer Bedeutung für dessen Entscheidung für den Nationalsozialismus. Elisabeth Gallas betont die Vernichtung der Juden Europas als erfahrungsgeschichtliches Zentrum von Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft; Andreas Kablitz untersucht Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie hinsichtlich der Frage nach Identität und jüdischer Zugehörigkeit ; Philipp Graf und Lutz Fiedler widmen sich dem linken Milieu jüdischer Lebenswelten. Graf greift die sukzessive Spaltung innerhalb der KPD-Gruppe um Paul Merker im mexikanischen Exil auf, die zum Weggang von Bruno Frei und Leo Katz führten. Fiedlers Beitrag bedarf einer besonderen Erwähnung, denn durch seine Untersuchung der israelisch-arabischen Verständigung vor der Utopie eines sozialistischen Nahen Ostens, wird Lafif Lakhdar, ein anderer Beiträger der Festschrift, zur Figur jener historischen Konstellationen der Dekolonisierung, von denen Diner nicht unbeeindruckt blieb.
Aufschluss über die verbindenden Elemente jüdischer Geschichte, ihrer Wechselbeziehungen und der interpretatorischen Konzepte geben Essays, die auf die Selbstreflexion der Historiographie abzielen. So unternimmt Israel Bartal es, die Herausbildung der jüdischen Universität aus der Säkularisierung traditionell-religiöser jüdischer Betstuben und Rabbinerseminare nachzuzeichnen; Michael Brenner rekapituliert die sich in der Zeit ändernden Sichtweisen auf das deutsche Judentum durch die ihm entsprungenen Historiker George L. Mosse, Fritz Stern und Peter Gay; ihm schließt sich die methodische Klärung des Konzepts und der Entstehungskontext der "integrated history of the Holocaust" (157) durch ihren Nestor Saul Friedländer an. Desanka Schwara lotet das Spannungsfeld von europäischem Nationalismus und diasporischer jüdischer Geschichtserfahrung aus, welche vor allem in der Ethnifizierung der Gesellschaft in der Konsequenz des Epochenwechsels von 1989 ihren aktuellen Reibungspunkt bekommt. Yaron Jean greift den Titel der Festschrift auf und reflektiert über den Bedeutungshorizont der "Konstellationen", über die Scheidung von Sichtbarem und Imaginiertem, welche er an der Geschichte und Entwicklung des Regimes von Pässen und Migrationspolitik im 20. Jahrhundert darstellt. Justus Cobet stellt offensiv die Frage, ob die gängigen Epocheneinteilungen angesichts der rapiden Veränderung der historiographischen Referenzsysteme noch haltbar seien; er kommt zu dem Schluss, dass das europäisch geprägte Modell von Antike, Mittelalter, Neuzeit zwar kontextualisiert und konterkariert werden müsse, es aber (noch?) durch kein Konzept ähnlicher Tragweite ersetzen werden könne.
Politische Akzente setzen die Beiträge Lafif Lakhdars und Sadik J. al-Azms. Lakhdars Forderung nach einer Säkularisierung des Islam legitimiert sich vor dem Hintergrund einer durch die neuen Kommunikationstechnologien entgrenzenden Welt mit ihrer Utopie eines von der Religion getrennten Gemeinwesens und Staats selbst durch islamische Quellen. In einer Zeit der Umwälzung des fast gesamten Nahen Ostens, mit welcher ein "Kulturkampf" einhergehe, gelte es die "Tradition der Säkularisierung" zu stärken (79). Sadik J. al-Azms düstere Analyse der drohenden Implosion des Irak folgt ganz Lakhdars Ruf nach Säkularisierung. Al-Azm entwirft ein Programm, welches die rechtliche Sicherheit und juridischen Standards bürgerlichen Rechts sowie Rechte wie Schutz von Frauen und ethnischer wie konfessioneller Minderheiten in seinen Mittelpunkt stellt. Aufgrund der revolutionären Vorgänge im Nahen Osten in den letzten Monaten ist der Beitrag Israel Gershonis, der auf Muhammad Abdallah Inan und die von ihm herausgegebene Zeitschrift Al-Risala hinweist, nicht ohne Bedeutung. Inan und seine Mitstreiter waren eine einsame "Stimme der Vernunft" (106) deren liberaler und antifaschistischer Blick auf die horrenden Auswirkungen des sich ausbreitenden europäischen Faschismus gerichtet blieb. Zu hoffen bleibt, dass diese Referenzen der Erinnerung sich ebenso wie die appellativen Analysen Lakhdars und al-Azms in der Zukunft auswirken mögen.
Diese Spanne reüssierter Wissenschaftler und junger Historiker illuminiert die Breitenwirkung Diners intellektuellen Engagements - nicht nur in der Themenwahl der Autoren; die Gliederung und die Semantik der Festschrift gibt die von Dan Diner in den historiographischen Diskurs eingeführte Terminologie wieder: Verkehrungen, Ambivalenzen, Imaginationen, Verschiebungen, Narrative, Epistemiken, all dies sind Begriffe, die Diners Werk nach der globalen Zäsur von 1989/90 durchziehen. Dies ist der Einsicht geschuldet, dass in der Welt nach der Blockkonfrontation die Geschichte je neu umkämpft und ausgedeutet wird. Zugleich ist durch die verunsichernde Bewegung und unübersichtliche Offenheit der neuen "Weltordnungen" [2] auch die vormalige Determinierung gebrochen. Geschichte kann und muss neu angeeignet werden. Auf die Verschränkungen und Differenzen von Gleichzeitigem und Ungleichzeitigem, verweist Diners Sprache. Dies spiegeln gekonnt die Beiträge der Festschrift.
Jedoch ist genau diese Vermittlungsleistung, Beiträge des Sammelbandes und Œuvre Diners ins Verhältnis zu setzen, unterblieben. Die durchaus fruchtbaren und anregenden Verknüpfungen und die Imagination aufzuspüren, welchen "Impuls" Diner konkret gegeben haben mag, bleibt allein dem Leser überlassen.
Es sei auch ein Hinweis zum Titel erlaubt. "Konstellationen", so die Herausgeber, könnten "als ideen- und wissenschaftshistorisch entschlüsselbare Relationen bezeichnet werden, als Bezugnahmen und Abgrenzungen, explizite oder implizite Traditionsbildungen und -brüche, in denen je eine Art von nachweisbarer Übertragung oder ein erkennbarer 'kleiner Kulturtransfer' [...] stattfindet." (9) Über diese akademische Einhegung hinaus wäre auf Theodor W. Adorno zu verweisen möglich gewesen, auch weil kritische Gesellschaftstheorie nicht ohne Einfluss auf Diners Denken und Schreiben geblieben ist. "Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Inneren weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann", so Adorno 1966 [3]. Schaut man auf Diners Schriften der letzten zwanzig Jahre, so lässt sich dieser Impuls, modellhaft zu reflektieren, nachverfolgen. Er kennzeichnet durchlaufend seine Arbeiten über Moderne, Aufklärung und Geschichte.
An diese Dimensionen des Denkens und Forschens in Konstellationen knüpfen die Beiträge Diner zu Ehren in bester Weise an und bieten anregende Aspekte für eine Historiographie im 21. Jahrhundert.
Anmerkungen:
[1] Raphael Gross / Yfaat Weiss (Hgg.): Jüdische Geschichte als Allgemeine Geschichte. Festschrift für Dan Diner zum 60. Geburtstag, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2006.
[2] Dan Diner: Weltordnungen. Über Geschichte und Wirkung von Recht und Macht, Frankfurt am Main 1993, 7-15.
[3] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1997, 164.
Hanno Plass