Monika Melters: Kolossalordnung. Zum Palastbau in Italien und Frankreich zwischen 1420 und 1670, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2008, 424 S., ISBN 978-3-422-06787-5, EUR 58,00
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Die monografische architekturhistorische Sekundärliteratur zu Genus, Grammatik, Syntax und Semantik der frühneuzeitlichen Säulenordnungen hat sich bislang an einer Hand abzählen lassen. In Anbetracht eines jahrhundertelangen Gebrauchs derselben beim Gestalten von Architektur ist dies erstaunlich wenig, sodass von dieser Warte aus die von Monika Melters als Habilitationsschrift vorgelegte Untersuchung der Entwicklung, Verwendung und Semantik der so genannten Kolossalordnung nur begrüßt werden kann. [1]
Inspirierend und prägend zugleich wirkte auf die Autorin der Altmeister im Dekodieren frühneuzeitlicher architektonischer Gliederungssysteme: Erik Forssman und insbesondere dessen berühmte Schrift Dorisch, jonisch, korinthisch. [2] Was die aktuelle Methode des Kulturtransfers betrifft, mit deren Hilfe die Wanderung des Titel gebenden Baumotivs von Italien nach Frankreich und dessen dortige nationale Vereinnahmung erklärt werden, scheint sie in dem famosen Buch von Dietrich Erben über die Kunstbeziehungen zwischen Paris und Rom unter Ludwig XIV. Bestätigung gefunden zu haben. [3]
Schon in der Einleitung (10-15) erfolgen die maßgeblichen Begriffsdefinitionen: Die kolossale Ordnung gehört dadurch, dass sie sich mindestens über zwei volle Geschosse erstreckt und eine besondere maßliche wie metaphorische Qualität von Größe zur Anschauung bringt, von den sonstigen geschossübergreifenden Gliederungssystemen unterschieden (12). Sodann wird das architektonische Begriffsreservoir um sechs Fassadentypen erweitert: Die "parataktisch-offene" und die "parataktisch-geschlossene Kolossalfassade" italienischer öffentlicher beziehungsweise privater Paläste, der "kolossale frontespicio" (meint: Tempelfront) der venetischen Villa, die aus beidem kombinierte "kolossale Portikusfassade", sodann der "kolossale Mittelrisalit mit Attika" des Pariser Hôtel und die "französische Kolossalfassade" des königlichen Schlosses (13).
Mit einer Forschungskritik, die zugleich Ausblick auf das bedauerlicherweise nicht Behandelte ist, nämlich den mit Kolossalordnungen geradezu inflationär gestaltenden Spätbarock, wird in medias res gegangen (16-24): Der bisherige Begriffsgebrauch sei, da zu wenig differenzierend, ebenso zu hinterfragen wie die von der Architekturhistoriografie kanonisierte Entwicklungslinie Rom/Michelangelo - Veneto/Palladio - Wien/Fischer von Erlach, weil der Anteil Frankreichs an der Ausprägung des Motivs dabei auf eine ungerechtfertigte Weise marginalisiert geblieben wäre.
Das Übertragen antiker, geschossübergreifender Gliederungssysteme, welche sich in Ansätzen bei den Triumphbögen und den Innenfassaden der Thermenbauten erkennen lassen, auf den nachmittelalterlichen Wohn- und/oder Repräsentationszwecken dienenden Geschossbau ist Melters zufolge eine genuine Leistung der Frühen Neuzeit (24-30). Deren vitruvianisch geprägte Architekturtheorie weiß wenig zur Begriffsgenese und Motivdefinition beizutragen (74-79, 181) - erst im 18. Jahrhundert sprechen französische Traktatautoren wörtlich von einer "ordre colossal" (76).
Brunelleschis unvollendet gebliebener Palazzo di Parte Guelfa in Florenz weist die erste frühneuzeitliche geschossübergreifende Gliederung auf, weshalb Melters in ihm das zur Kolossalordnung führende Initialwerk erkennt. Die Kombination aus kantenverstärkenden Pilastern und hohen Bogenfenstern, über denen Rundfenster angebracht sind, führt sie auf römische Triumphbögen zurück und rekonstruiert deshalb ein angeblich nicht mehr gebautes Attikageschoss (42-49, 183). Leider widerspricht dieser neue Interpretationsansatz völlig der Anschauung, weshalb Brunelleschis Motivvokabular besser weiterhin im Florenz des Mittelalters gesucht werden sollte. [4] Hinsichtlich der inspirativen Rolle, welche der antike Triumphbogen im Frankreich des 16. Jahrhunderts bei der Entwicklung der Kolossalordnung spielte (107-116, 192f.), ist Melters aber durchaus Recht zu geben.
Durch die Fehleinschätzung des Florentiner Guelfenpalastes erleidet der Argumentationsstrang des Buches schon im Anfangsstadium einen ersten Knick. Im weiteren Verlauf versucht Melters ihrer Fragestellung entsprechend, die Ursprünge und die Entwicklung des kolossalen Gliederungsmotivs in Italien und in Frankreich zu ergründen, was sowohl zweigleisig als auch der Wechselwirkungen wegen verzahnt geschieht. Der bei einem solchen Unterfangen drohenden Gefahr, vereinzelt aufblitzende Ideen in den Rang trendsetzender Schlüsselwerke zu erheben, unterliegt sie dabei mehrfach; extremstes Beispiel ist ein Fassadenentwurf Leonardos in Form einer im Codice Atlantico der Mailänder Ambrosiana enthaltenen Miniaturskizze. Obgleich diese doch eher als Marginalie zu bewerten ist, rekonstruiert Melters daraus auf höchst spekulative Weise ein für den französischen König bestimmtes Schlossprojekt und postuliert darüber hinaus dessen bis in das 17. Jahrhundert fortdauernde Verfügbarkeit am Pariser Königshof in Plänen und sogar in Form eines Modells (153-159, 184, 188-191, 198-220). Im Weiteren gründet darauf das Gedankengebäude, der Kolossalordnung wäre damit in Frankreich als primär königlich konnotiertes Fassadenmotiv der Weg bereitet worden (159-180, 188-220), das in den von Du Cerceau überlieferten Entwürfen für Schloss Charleval unter Karl IX. einen ersten Höhepunkt erlebt hätte (159-164, 192-195) und unter Ludwig XIV. in den Planungen für den Neubau des Louvre gipfele - Berninis erster Entwurf für dessen Ostfassade wird dahingehend im Sinne eines Paradigmas am Ende des Buches neu interpretiert (205-220). Dass aber beispielsweise die königlichen Schlossbauten des 16. Jahrhunderts im Pariser Louvre-Tuilerien-Areal keine kolossale Gliederung aufweisen, hat die Autorin keineswegs im Glauben an ihrer in Anbetracht dessen doch allzu sehr schwarz-weiß malenden These erschüttert.
Bei der Rekonstruktion der Motiventwicklung in Italien vermag Melters mit dem Vorschlag zu überzeugen, die in Palladios Quattro Libri vorgestellten kolossalen Palastfassaden seien als Scheinportiken antik-römisch verstandener Häuser zu deuten (84-97, 187f.). Dessen Loggia del Capitanio in Vicenza und Michelangelos römisches Kapitol lassen sich dagegen als jeweils öffentliche Gebäude unabhängig voneinander auf Cesarianos Rekonstruktion von Vitruvs Basilika in Fano zurückführen (59-74, 81-84, 186). Ob aber bei der päpstlichen Münze in Rom tatsächlich der Gedanke, eine dezidiert als öffentlich konnotierte Kolossalfassade zu gestalten, im Vordergrund stand (57-59) oder diese nur daraus resultiert, dass einem dreistöckigen älteren Gebäude emblematisch ein aufgesockeltes Triumphbogenmotiv vorgeblendet wurde, sei dahingestellt. Überhaupt versperrt sich die Autorin aufgrund ihrer Prämisse, die Kolossalordnung sei ausschließlich ein semantisches, noch dazu bauaufgabenspezifisch verwendetes und/oder national konnotiertes "motif parlant" (14), den Blick für Ausnahmen. Zu doktrinären Sichtweisen, die den frühneuzeitlichen Architekten fremd gewesen sein muss, verführt auch die Motivdefinition. So darf zum Beispiel die Ostfassade des Louvre der zeitgenössischen Anschauung zuwider nicht mehr als kolossal gegliedert bezeichnet werden, weil das zweite von der Gliederung überspannte Geschoss niedriger als das untere ist (40f.). Ebenso müssen über zwei oder mehr Vollgeschosse reichende Gliederungen nicht immer kolossal wirken, wie beispielsweise die dementsprechend interpretierten Versuche Borrominis, die Baukörperkanten römischer Paläste anstelle von Ortsteinverbänden mit überlangen Pilastern zu betonen (135-138). Letzterer Fall ist auch ein Beispiel dafür, wie Melters aufgrund der Beschränkung auf den Palastbau (19f.) die gerade in Rom unübersehbaren Wechselwirkungen zwischen dem Sakral- und dem hochanspruchsvollen Profanbau aus dem Blick geraten. Wenn sie dann in Berninis Palazzi Ludovisi in Montecitorio und Chigi a SS. Apostoli auch noch einen bewussten Einfluss französischer Kolossalfassaden erkennen will (124f., 138-144, 192), werden der Leitthese zuliebe wider alle Vernunft die Verhältnisse den tatsächlichen zum Trotz auf den Kopf stellt. Die diesbezügliche Vorbildlichkeit sollte man lieber den aufgesockelten und geschossübergreifend gegliederten Palästen des Bramante-Raffael-Kreises belassen, da jene in Rom zweifelsohne die Entwicklung der Kolossalordnung in Gang setzen, auch wenn sie per definitionem eine solche noch nicht aufweisen (39-42, 210).
Insgesamt betrachtet krankt das im Ansatz verdienstvolle Buch weniger am doktrinären Habitus der Begriffsdefinition, sondern vielmehr an den ambitioniert wirkenden entwicklungsgeschichtlichen und architekturikonologischen Thesen, indem sich diese bei kritischer Prüfung als nur bedingt haltbar erweisen. Die gebetsmühlenartig mehrfache Wiederholung der überwiegend hypothetischen Resultate mag dem Querleser helfen, doch auf denjenigen, der das ganze Buch durcharbeitet, wirkt dies ermüdend, ja gar insistierend und letztlich indoktrinierend. Zudem wird diesen dabei über weite Passagen hinweg der Anschein des Faktischen verliehen, was der Argumentation einen manipulativen Beigeschmack verschafft. Gelungen ist Melters das Definieren, Klassifizieren sowie chronologische und topografische Ordnen - in der Aufbereitung des Materials und der Begriffsschärfung liegen demnach die Verdienste ihres Buches.
Anmerkungen:
[1] Erster Kontakt mit dem Thema schon im Zuge der Dissertation: Monika Brunner-Melters: Das Schloß von Raudnitz 1652-1684. Anfänge des habsburgischen Frühbarock, Worms 2002, 95, 116-118, 135-168, 174-176.
[2] Erik Forssman: Dorisch, jonisch, korinthisch. Studien über den Gebrauch der Säulenordnungen in der Architektur des 16.-18. Jahrhunderts, Stockholm / Göteborg / Uppsala 1961.
[3] Explizit zitiert auf 200f.: Dietrich Erben: Paris und Rom. Die staatlich gelenkten Kunstbeziehungen unter Ludwig XIV, Berlin 2004.
[4] Vgl. Heinrich Klotz: Die Frühwerke Brunelleschis und die mittelalterliche Tradition, Berlin 1970.
Peter Heinrich Jahn