Christian Demand: Wie kommt die Ordnung in die Kunst?, Springe: zu Klampen! Verlag 2010, 286 S., ISBN 978-3-86674-057-0, EUR 22,00
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Es ist schon vielen aufgefallen, dass Ernst H. Gombrichs Geschichte der Kunst bei Fragen zur Kunstgeschichte nach 1960 nicht weiterhilft, denn diese kommt - bis auf sehr wenige Ausnahmen - schlicht nicht darin vor. Zu diesen Ausnahmen zählt (in der 16. Ausgabe von 1994) eines der verblüffendsten Urteile über die Bedeutung von Joseph Beuys. Gombrich charakterisierte den Künstler dort - in der Interpretation von Christian Demand - "als deutschen Plagiator des Ready-made-Konzepts von Marcel Duchamp" und seine Aktionen als nichts weiter denn eine "Mode", aber sicher keine Kunst. Man könnte diese Bewertung schlicht als kuriosen Ausweis dafür nehmen, wie der Autor ohne viel Federlesens einen der von den meisten Kunsthistorikern auch 1994 schon lange anerkanntesten Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kurz abfertigte und bei der Wahl seiner Argumente ziemlich weit daneben griff. In seinem Buch Wie kommt die Ordnung in die Kunst? formuliert Demand -Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg und ab Januar 2012 Herausgeber des Merkur - hingegen mit Bezug auf derartige Urteile eine recht einfach erscheinende Frage: Welche Bewertungskriterien haben wir eigentlich, um Kunst als Kunst von Nichtkunst unterscheiden zu können? (für Gombrichs Beuys-Bewertung: 105ff.)
Als weitaus populärste Übersichtsdarstellung des Fachs dient Gombrichs Band Demand als Exempel, um dem spannenden Thema nachzugehen, warum die Objekte, die in Kunstgeschichtsschreibung und Museen den seit Jahrhunderten tradierten Kanon umschreiben, eigentlich zu anerkannten Exemplaren eben dieses Kanons geworden sind. Dies zielt auf Gombrichs Ordnungskriterien genauso wie auf die seiner Vorgänger und Nachfolger: "Wenn [...] der einzige Satz, auf den sich sämtliche Kunstweltbewohner heute noch problemlos verständigen können, besagt, daß moderne Kunst sich jeder Klassifikation prinzipiell entzieht, die Museen für Moderne Kunst aber durchgehend ein Programm anbieten, [...] das nach den 'überall schon approbierten' Auswahlkriterien zusammengestellt und 'immer wieder mit den gleichen >Namen<' bestückt ist, die gleichzeitig wiederum in allen kunstgeschichtlichen Übersichtswerken auftauchen, dann schadet es vermutlich nicht, einmal nachzufragen, wie dieses [...] verblüffend uniforme Resultat eigentlich zustande kommt." (13f.)
Damit eröffnet Demand seine Studie genauso polemisch, wortgewandt und grundsätzlich in der Zielrichtung wie bereits seinen Vorgängerband über die ihm zufolge nicht mehr als kritische Instanz ihrem Publikum verpflichtete Kunstkritik (Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte, 2003). An diesen Band schließt seine Untersuchung der Prämissen kunsthistorischer Kanonbildung an, plädiert er doch wiederum gegen die selbstverständliche Anerkennung der Autorität von Fachleuten. "Kunst", so Demand, sei ein Wertbegriff und die Grenzen zwischen dem "Erinnerungspflichtigen" und dem "Entbehrlichen" müssten "bei jedem neuen Dissens stets neu ausgehandelt werden." (22) Schließlich sei die Entscheidung, etwas als Kunst zu betrachten oder anderen künstlerischen Zwecksetzungen vorzuziehen, weniger eine ästhetische denn eine ethische Angelegenheit, die letztlich vom Urteil darüber bestimmt werde, "was ein geglücktes Leben ausmacht": "Bei der Beantwortung dieser Frage hilft kein Kompetenzvorsprung durch kunsthistorische Kennerschaft weiter, es gibt auch keinen Beweis durch 'die Tatsachen', ja es gibt vermutlich noch nicht einmal annähernd mehrheitsfähige Antworten - weshalb wir uns vielleicht besser endlich von der abstrusen Vorstellung verabschieden sollten, die Kunstkritik habe Einmütigkeit im Reich der Ästhetik herzustellen." Immerhin wäre es möglich, "daß wir es bei der Kunstgeschichte [...] nicht nur mit einer höchst respektablen Wissenschaft, sondern, neben vielem anderen, auch mit einer riesigen, beeindruckend institutionalisierten Fankultur zu tun haben - mit allen Vor- und Nachteilen." (23)
Demand hat damit schon in der Einleitung die wesentlichen Punkte seiner Philippika formuliert, die er im Folgenden ausbuchstabiert. Er führt detailliert vor, wie Gombrich seine eigenen methodischen Maximen einer "rational betriebenen" Kunstgeschichte als Problemgeschichte nicht erfüllen kann, objektive Analyse und subjektive Bewertung zu trennen und ohne einen dogmatischen Kunstbegriff auszukommen. Dabei arbeitet Demand - trotz aller Unterschiede - eine ganze Reihe Parallelen zwischen Gombrichs Geschichte der Kunst und Vasaris Viten heraus (57ff.). Dazu gehört etwa die Vorstellung von der Kunstgeschichte als einer genialischen Überbietungsgeschichte bei den Lösungen von Gestaltungsproblemen, die sich nahtlos an die Bahnen der schon tradierten Leistungen anschließen. Demand beschreibt anschaulich, wie Gombrich über Jahrhunderte überlieferte, kanonische Werturteile als Tatsachen - da sie sich bewährt haben - begreift und warum Beuys und andere zeitgenössische Künstler außerhalb dieser Vorstellung starker Traditionslinien und an sie anschlussfähiger, also schwächerer Innovationen stehen müssen (94ff.). In historischen Rückblicken zeigt er stichprobenartig, wie negativ konnotiert Mode, Moderne, Innovationen und das Neue gerade im Kontext von Wissenschaft und Kunst bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren (132ff.) und wie lange die Überlagerung von Ethik und Ästhetik beim Bewerten von Kunst unhinterfragter Standard war (169ff.). Demand hinterfragt, was eigentlich hinter dem von Gombrich und anderen so häufig formulierten "wir" steckt (202ff.) und er macht plausibel, dass es bei notwendigerweise per se autonomen ästhetischen Urteilen keinen "sensus communis" geben kann (234ff.).
Es liegt in der Natur der verhandelten Angelegenheit, dass Demand am Ende seines Buches keine Lösung für das von ihm aufgeworfene grundlegende Problem aus dem Hut zaubern kann. Angesichts der mehr als 270 Seiten währenden rhetorischen Offensive erscheint jedoch der auf die Einleitung zurückkommende Schluss, dass die "kulturhistorische Sinnstiftung [...] ein in höchstem Maße wertgesättigter, selektiver, gestalterischer Prozeß" sei und deshalb öffentlich ausgehandelt werden müsse (275f.), trotzdem erstaunlich verhalten. Demand lässt auch offen wie (und wo) er sich dies genauer vorstellt, sieht man vom kurzen Bescheid ab, dass Museen dafür wenig geeignet seien (die allerdings im Buch kaum vorkommen). Nicht nur in diesem Zusammenhang wären in einem Buch über Ordnungsbildung einige Hinweise auf Einbrüche der in den letzten 250 Jahren vermutlich auch unordentlichen historischen Praxis der Kanon- und Wertbildung schön gewesen. Es hätte zudem das recht überschaubare (historische) Personalaufgebot pluralisiert. Demands Buch leistet trotzdem einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Kunstgeschichte und zum Hinterfragen historischer und methodischer 'Selbstverständlichkeiten' des Fachs. Er stellt basale Ordnungsschemata auf plausible Weise in Frage ebenso wie die Argumente, auf die sich Autoritätsansprüche bei der Auswahl und Bestimmung von zu überliefernden "Meisterwerken" gründen. Und nicht zuletzt sein Versuch, Debatten über zeitgenössische Kunst letztlich eine größere gesellschaftliche Breite und damit Relevanz zuzusprechen, macht "Wie kommt die Ordnung in die Kunst?" zu einem sehr lesenswerten Buch.
Angela Matyssek