Peter van den Brink (Hg.): Joos van Cleve. Leonardo des Nordens, Stuttgart: Belser Verlag 2011, 200 S., 146 Farbabb., ISBN 978-3-7630-2596-1, EUR 36,00
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Nach der Hans von Aachen-Schau im Jahr 2010 setzte das Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen mit der im Frühjahr 2011 eröffneten Joos van Cleve-Ausstellung seine monografischen Projekte zur alten Kunst fort. Die erste große Retrospektive zu Joos van Cleve (1485/90-1540/41), dem in Antwerpen tätigen 'Romanisten' der Umbruchzeit, präsentierte rund 60 Gemälde. Für den Katalog, der sich in sieben Essays und die Objektartikel gliedert, wurden internationale Spezialisten gewonnen.
In seiner "Einführung: Der (un)sichtbare Künstler" (12-19) lenkt Peter van den Brink den Blick auf einige Ungereimtheiten. Obwohl bedeutendster Porträtist in einer der wichtigsten damaligen Handelsstädte, wurde van Cleve z.B. nicht von Dürer im Tagebuch seiner niederländischen Reise erwähnt, von den frühen Biografen des 16. und 17. Jahrhunderts vernachlässigt und seine Künstlerpersönlichkeit erst Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt.
Mit diesem Phänomen setzen sich John Hand und Micha Leeflang in ihrem biografischen Beitrag "Das Leben Joos van Cleves. Warum er in Vergessenheit geriet und wie er wiederentdeckt wurde" (20-29) auseinander. Aus Mangel an Quellen kann auf die frühen Jahre des Künstlers nur indirekt geschlossen werden. So scheint ein integriertes Selbstbildnis am Kalkarer Hochaltar für eine Mitarbeit in der Werkstatt Jan Joests zu sprechen, wo er auch Barthel Bruyn kennengelernt haben dürfte. Archivalisch belegt ist van Cleve erst 1511, als er in die Antwerpener Malergilde aufgenommen wird. In die Wirtschaftsmetropole hatte es seit Ende des 15. Jahrhunderts namhafte Künstler gezogen. Den Quellen zufolge unterhielt van Cleve dort eine florierende Werkstatt.
Mit der Frage nach den Auftragsarbeiten beschäftigt sich John Hands Essay "Der Künstler und seine Kundschaft. Die Altarretabel Joos van Cleves und ihr Handel in Europa" (30-63). Jenseits der vielen Gemälde für den freien Markt sind zu einigen Werken konkrete Informationen überliefert. So fertigte der Maler gleich drei Altarretabel für Kölner Auftraggeber. Van Cleves Reinhold-Altar wiederum wurde nach Danzig exportiert. Nicht wenige Tafeln gelangten nach Ligurien, manche gar bis nach Agaete (Gran Canaria). Die breite Nachfrage gründete wohl in der hohen Assimilationsfähigkeit des Malers, der sich trotz altniederländischer Wurzeln immer mehr für den Antwerpener Manierismus öffnete, besonders aber der italienischen Malerei nacheiferte.
Einen spezifischen Aspekt der Auftragsfragen beleuchten Maria Clelia Galassi und Gianluca Zanelli in "Joos van Cleve und Genua" (64-85). Van Cleve schuf mindestens drei, vielleicht vier Altarbilder für Genueser Auftraggeber. Entgegen der älteren Vermutung eines Aufenthalts des Malers in Ligurien sprechen jüngere Forschungen dafür, dass die starke Genueser Kaufmannschaft in Antwerpen offenbar speziell die Werke van Cleves als eine Art Statussymbol betrachtete. Ein Indiz für dessen internationale Wertschätzung liefern auch einige Porträts, die italienische Auftraggeber nicht nur im Stil des Nordens, sondern auch in flandrischer Kleidung zeigen.
Der "Porträtkunst Joos van Cleves" (86-111) widmet sich Cécile Scailliérez, und hier zunächst den zahlreichen Selbstbildnissen, unter denen das in Gestalt eines fast lebensgroßen, prominent platzierten "Hl. Reinhold" besonders erstaunt. Generell finden sich in van Cleves Porträts keine Landschaftshintergründe, auch räumliche Kontexte bleiben selten. Als Modernisierung stellt die Autorin die aufhellenden (himmel)blauen Fonds heraus. Mit den Jahren werden die Bildnisse in Format und Dynamik repräsentativer, differenzierter in der stofflichen Modellierung und physiognomischen Erfassung. Als einer der Höhepunkte darf das "Bildnis eines Edelmannes mit Bart" gelten, das schon 1660 in Genua dokumentiert ist. Die Sonderstellung dieses Gemäldes wirft jedoch die Frage auf, ob die außergewöhnlich reiche Ausstattung allein dem Wunsch des Bestellers geschuldet ist oder ob vergleichbare andere Bildnisse verloren sind. Wahrscheinlich durch Joris Vezeleer am französischen Hof eingeführt, porträtierte van Cleve Franz I. und Eleonore, wohl anlässlich ihrer Hochzeit 1530. Da der König in Jean Clouet bereits einen niederländischen Hofmaler hatte, reflektiert der Auftrag eventuell einen Wunsch Eleonores. Ein Bildnis Heinrichs VIII. könnte als Gegenstück zum (oft wiederholten) Porträt Franz' I. fungiert haben, doch ist auch eine Fassung der Eleonore als Pendant zu letzterem denkbar.
Dan Ewing stößt mit seinem Essay "Joos van Cleve und Leonardo. Italienische Kunst in niederländischer Übersetzung" (112-131) zum Kern des Themas vor: den italianisierenden Momenten in den Gemälden van Cleves, insbesondere beeinflusst durch die Kunst Leonardos (1452-1519). Gerade Antwerpen entwickelte sich als "größte international ausgerichtete Handelsmetropole Nordeuropas [...] mit der mitgliederstärksten Malergilde außerhalb Italiens" (114) frühzeitig zu einem Zentrum des 'leonardismo', wohl nirgends gab es so viele leonardeske Werke. Der größte Teil von ihnen geht auf van Cleves Werkstatt zurück, wodurch er zugleich einer der wichtigsten Vermittler italienischer Qualitäten an die Künstler im Norden wurde. Besonderen Absatz fanden zwei Themen nach Leonardo: die "Kirschenmadonna" und "Christus und Johannes als Kinder", die durch Wiederholungen von Giampietrino bzw. Marco d'Oggiono in Antwerpen bekannt wurden. Von diesen fertigte van Cleve serienweise Kopien, wobei er die italienisch anmutenden Figuren samt einem gewissen Sfumato geschickt in nördliche Ambiente zu integrieren und mit niederländischem Realismus und Detailreichtum zu kombinieren verstand. Die Zusammenhänge und Übereinstimmungen mit der italienischen Malerei, die es Dan Ewing aufzuzeigen gelingt, sind so frappierend wie zahlreich.
Micha Leeflang spürt in ihrem Beitrag "'Was ihr wollt'. Joos van Cleves Werkstatt und der Kunstmarkt" (132-155) dem Maler als Unternehmer, der Werkstattorganisation und dem Entstehungsprozess des einzelnen Bildes nach. Die enorme Produktionsmenge resultierte einerseits aus den günstigen Absatzchancen in der Handelsmetropole Antwerpen, andererseits aus der Serienfertigung populärer Kompositionen auf Vorrat. Eng übereinstimmende Fassungen deuten darauf hin, dass vom selben Motiv oft zwei Kopien gleichzeitig hergestellt wurden. Dabei profitierte van Cleve offenbar von seiner frühzeitigen Orientierung an der Kunst Italiens, die als äußerst modern gegolten haben muss. Während Porträts wohl in den wesentlichen Teilen vom Meister selbst ausgeführt wurden, scheint er sich für andere Partien, wie z.B. Landschaftshintergründe, teils auch der Mitarbeit von Spezialisten bedient zu haben.
Der schlanke, thematisch geordnete, überwiegend von Alice Taatgen verfasste Katalogteil (156-185) liefert 62 Objektnummern, unter denen sich auch frühe italienische Varianten nach Leonardo und wenige nicht in der Ausstellung gezeigte Tafeln van Cleves finden. Die Artikel informieren prägnant und instruktiv, am Ende oft mit Rückverweisen auf die relevanten Essays. Vor dem Literaturverzeichnis und einem nützlichen Personenregister am Schluss sind die Anmerkungen untergebracht, die sich der Leser eher bei den Beiträgen gewünscht hätte. Auch stößt der großzügig bebilderte Band freilich an Grenzen, wenn es um die Diskussion von Details, etwa in sakralen Bildern, geht.
Fazit: Der Ausstellungskatalog bereitet die vielschichtige Thematik sehr gewinnbringend für ein breites Publikum auf. Van Cleve wird nicht nur in die zeitgenössische Malerei eingeordnet, sondern vor allem höchst anschaulich als früher 'Romanist' gewürdigt. Besonders muss dabei die Übersetzungs- bzw. Redaktionsleistung hervorgehoben werden: Trotz Übertragungen aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Niederländischen ist es gelungen, eine durchgängig sehr verständlich formulierte Publikation 'aus einem Guss' vorzulegen. Dass den Forschern dabei das Recht zugestanden wurde, an eigenen Datierungen festzuhalten, selbst wenn diese im Widerspruch zur Meinung von Mitautoren stehen, zeugt zudem von einem gewissen Zutrauen der Herausgeber in die Reflexionsfähigkeit der Leserschaft des Bandes.
Annette Kranz