Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals (Hgg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 456 S., ISBN 978-3-525-36921-0, EUR 62,95
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Die Zielsetzung des Buches besteht darin, "die Öffentlichkeitswirksamkeit ausgewählter wichtiger Prozesse genauer unter die Lupe zu nehmen." Wobei nicht die Strafverfahren und ihre juristischen Probleme im engeren Sinne in den Mittelpunkt gestellt werden, sondern die "Rezeption in der Berichterstattung der Medien und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wahrnehmung der nationalsozialistischen Vergangenheit."(21) Die politischen Rahmenbedingungen im Osten und im Westen unterschieden sich deutlich. In den Westzonen standen die im Band dargestellten Kriegsverbrecherprozesse unter Ägide der westlichen Alliierten (Nürnberg 1945/46, Bergen-Belsen 1947, Dachau 1945-1948), später der Bundesrepublik mit ihrer rechtstaatlichen Justiz, der Presse- und Meinungsfreiheit sowie den staatlich unabhängigen Meinungsforschungsinstituten, während in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) die Sowjetischen Militärtribunale (SMT) unter Ausschluss der Öffentlichkeit urteilten und die später von der SED gesteuerte öffentliche - und veröffentlichte - Meinung sowie eine politisch gelenkte Justiz dominierten. Bei dieser Ausgangsposition ist es verständlich, dass die nach der Chronologie der Ereignisse geordneten Beiträge über die Westzonen bzw. die Bundesrepublik überwiegen (12 von insgesamt 20 Beiträgen).
So skizziert Edith Raim den Wiederaufbau der (west-)deutschen Justizverwaltung unter Aufsicht der amerikanischen, britischen und französischen Militärverwaltung sowie die Probleme, welche sich durch die Entwicklung eines unterschiedlichen Justizsystems oder in der Praxis durch die nur schwer durchzuhaltende Aufgabenverteilung, "alliierte Opfer: alliierte Verfahren; deutsche (oder staatenlose) Opfer: deutsche Verfahren" (39) ergaben. Sie schildert, wie das Justizpersonal, welches oftmals durch die frühere Mitgliedschaft in der NSDAP oder die "Beteiligung an der Willkürjustiz jenseits jeglicher Rehabilitierung" (34) kompromittiert war, im Kontext von Neubeginn und Entnazifizierung Wiederverwendung im Bereich der Justiz fand. Diese Entwicklung, die bekanntlich von erheblicher Tragweite für die Rechtsprechung und das Justizsystem der Bundesrepublik insgesamt war, spiegelt sich auch in den einzelnen Aufsätzen wider.
Andreas Eichmüller schildert zunächst die Rahmenbedingen und den Verlauf der Strafverfolgung nach Gründung der Bundesrepublik sowie die Intentionen Konrad Adenauers, der auf eine Integration der Millionen ehemaliger NSDAP-Mitglieder abzielte.
Im Bereich der Verfolgung von NS-Verbrechen kam es in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik (aber auch in der DDR) zu einem rapiden Rückgang der Ermittlungsverfahren und Prozesse. Eichmüller kann diese Entwicklung in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1961 mit solidem Zahlenmaterial belegen und liefert auch plausible Erklärungen dafür. Demnach waren unter anderem rechtliche Hindernisse ausschlaggebend und nicht, wie vielleicht vermutet, das Verlangen einer von Desinteresse und Ruhebedürfnis geprägten Gesellschaft - zumal die Mühlen der Justiz weiter mahlten und etliche bedeutende Prozesse, etwa zu den Vernichtungslagern Auschwitz, Sobibor und Treblinka stattfanden. Dennoch wurden 1954 erstmals mehr Angeklagte freigesprochen als verurteilt. Im zweiten Teil seiner Ausführungen geht Eichmüller auf den Wandel in der öffentlichen Rezeption der Strafprozesse wegen NS-Verbrechen ein. Der Wandel äußerte sich darin, dass sich in der ersten Hälfte der 1950er Jahre ein durch linke Parteien und Opferverbände organisierter politischer Protest gegen zu milde Strafen oder Freisprüche formierte, während sich andererseits ein regelrechtes "Gnadenfieber" rund um die in den alliierten Kriegsverbrecher-Prozessen verurteilten Deutschen ausbreitete und das politische Klima nachhaltig prägte. Dabei reichte das Spektrum der Befürworter einer großzügigen Begnadigung der in Haft einsitzenden NS-Täter "von den Kirchen an vorderster Stelle bis weit in die Sozialdemokratie" (64).
Die Hintergründe, Begleitumstände und Ergebnisse des detailliert von Claudia Fröhlich beschriebenen "Ulmer Einsatzgruppen-Prozess", einem der "wichtigsten NS-Prozesse" in der Bundesrepublik, führten 1958 zu einer "kriminalpolitischen Wende", mit der in der Bundesrepublik eine systematische Aufklärung der NS-Verbrechen begann (234). Sichtbares Zeichen dieser Entwicklung war die im Oktober 1958 durch Beschluss der Justizministerkonferenz gebildete Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, deren Entstehung, Tätigkeit und öffentliche Wahrnehmung überzeugend von Annette Weinke geschildert wird.
Mit den Kaskaden der bundesrepublikanischen Verjährungsdebatten im Bundestag, die im Frühjahr 1960 mit der fatalen Entscheidung zur Verjährung von Totschlag begannen, sich mit der Diskussion über die Verschiebung der Verjährungsfrist für Mord 1965 fortsetzten und mit der Beschlussfassung über die Verlängerung der Verjährung 1969 ihren vorläufigen Höhepunkt fanden, beschäftigt sich in eindrucksvoller Weise Clemens Vollnhals. Ihm gelingt es, die schwierigen Sachverhalte mit all ihren juristischen Facetten in verständlicher Form darzulegen und überzeugend die Hintergründe der Entscheidungen zu fokussieren sowie die Motivation einzelner Akteure herauszuarbeiten. Hinsichtlich der Strafverfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen wies die Entwicklung in der SBZ anfangs durchaus Parallelen zu den Westzonen auf. Sie nahm dann aber schon frühzeitig, wie Jörg Osterloh anschaulich schildert, unter dem Einfluss einer orthodox-marxistischen Deutung der NS-Herrschaft eine nahezu entgegengesetzte Entwicklung. Da hier fortan vornehmlich das Finanz- und Monopolkapital für die Verbrechen des NS-Regimes verantwortlich gemacht wurde, gab es für die breite Bevölkerung zugleich eine Art Kollektivabsolution. Der SED gelang es, die kollektive Mitverantwortung und Mithaftung für die NS-Verbrechen allein der Bundesrepublik zuzuschieben. Ziel dieser Propaganda und innenpolitischen Strategie war es, die Identifizierung der Bevölkerung mit dem Regime über die Externalisierung der NS-Problematik zu befördern. Gleichzeitig wurden der Neuanfang zur Implantierung eines sowjetisch-stalinistischen Gesellschaftsmodells genutzt und die Entnazifizierungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen über ihre eigentliche Bestimmung hinaus für weitergehende politische Zwecke benutzt. Denn es ging der SED, wie Gerald Hacke am Beispiel des von ihm beschriebenen "Dresdener Juristenprozess" belegen kann, "nicht um eine Verbesserung des Rechtsstaates, sondern um dessen Abschaffung" (187).
Deutlich wird dies auch am Verlauf der von Carina Baganz geschilderten "Hohenstein-Prozesse" in Sachsen 1949. Spiegelte sich im ersten Verfahren noch das Bemühen der Justiz wider, die Verbrechen des NS-Regimes mit strafrechtlichen Mitteln zu ahnden, waren die Folgeprozesse stark von den ideologischen und politischen Interessen der kommunistischen Machthaber überlagert (217). Zudem hatten die ausgesprochenen Urteile nur begrenzt Bedeutung, denn die meisten Verurteilten wurden amnestiert - manch einen warb das MfS vor oder nach der Entlassung auch noch als IM an.
Der Band kann keinen lückenlosen Überblick bieten. Dennoch füllen die Beiträge weiße Flecken auf der Landkarte der Forschung über die Strafverfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und zeigen noch zu untersuchende und zu beachtende Probleme auf. Dies dürfte vor allem für die SBZ/DDR gelten, wo bis Mitte der 1950er Jahre die Ergebnisse der Frühphase der juristischen Aufarbeitung durch Amnestien, Gnadenerlasse und Entlassungsaktionen aus innenpolitischen Opportunitätsgründen nahezu gänzlich revidiert wurden. Wie ein im Buch erwähnter Fall belegt, hatte dies jedoch durchaus auch Rückwirkungen auf die Strafverfolgung in der Bundesrepublik. Hinzuweisen ist auch auf jene Verfahren, in denen die Organe der DDR bei der Auswahl der Angeklagten "selektiv" vorgegangen waren (175) oder trotz vorliegender Beweise auf eine Strafverfolgung verzichtet hatten.
Anschaulich gelingt es den Autorinnen und Autoren anhand bedeutsamer NS-Prozesse (u. a. Eichmann-Prozess 1961; 1. Auschwitz-Prozess 1963-1965) aufzuzeigen, wie sich die öffentliche Wahrnehmung in den Westzonen und später in der Bundesrepublik in all ihren Widersprüchen entwickelte. Überzeugend ist daher auch das Resümee der Herausgeber: "Es war ein langer, steiniger und schmerzhafter Weg, bis die populäre Schlussstrich-Mentalität weithin überwunden war und die Mehrheit der Bevölkerung der Einsicht zustimmte, dass die moralische Verdammung der ungeheuren NS-Verbrechen ohne die konkrete Strafverfolgung der Täter unglaubwürdig bleiben müsse." (30) Dabei gelingt es den Autoren, die Unterschiede und die Wechselwirkung zwischen Ost und West deutlich zu machen. Eine Studie, die sich ausschließlich dem Vergleich der Vorgehensweisen und Ergebnissen bei der Verfolgung von NSG in Ost- und Westdeutschland widmet, steht noch aus.
Mit seiner Fülle an Detailinformationen zu einzelnen Fällen und statistischen Angaben ist der Band eine ebenso nützliche wie notwendige Ergänzung bzw. Fortschreibung der Forschung zu diesem Themenkomplex. Deshalb ist die Lektüre dieser Aufsatzsammlung all jenen zu empfehlen, die sich mit diesem, bis in die heutige Zeit hinein in der Öffentlichkeit heftig und kontrovers diskutierten, politisch komplexen und moralisch hochsensiblen Thema beschäftigen oder sich dafür interessieren.
Henry Leide