Rezension über:

Wendy Bellion: Citizen Spectator. Art, Illusion, and Visual Perception in Early National America, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2011, XVII + 351 S., 83 Abb., ISBN 978-0-8078-3388-9, USD 36,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Olaf Stieglitz
Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Olaf Stieglitz: Rezension von: Wendy Bellion: Citizen Spectator. Art, Illusion, and Visual Perception in Early National America, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/01/20006.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Wendy Bellion: Citizen Spectator

Textgröße: A A A

Nach der revolutionären Loslösung ihrer Kolonien vom britischen Mutterland verstanden die Mitglieder der gesellschaftlichen Eliten ihre jungen Vereinigten Staaten von Amerika nicht zuletzt als ein Projekt der Aufklärung. Um dieses Experiment einer Selbstregierung zu einem Erfolg werden zu lassen, galt es in ein umfassendes Programm zu investieren, mit dessen Hilfe mündige, selbstbewusste und auch kritische Staatsbürger entstehen sollten, die in der Lage waren, das neue, noch immer prekäre Gemeinwesen zu tragen und gegen seine inneren wie äußeren Gegner zu verteidigen. Den tugendhaften Republikanismus, darin waren sich die sogenannten Gründerväter einig, mussten die meisten Bürger (frei, weiß und männlich gedacht) erst noch erlernen.

Die Kunst hatte in diesem Erziehungsdiskurs eine ambivalente Position inne: Befürworter sahen eine verantwortungsvolle Aufgabe darin, Schönheit, Erhabenheit und menschliche Errungenschaften abzubilden. Für sie waren Malerei und Bildhauerei in der Lage, Intellekt und moralisches Empfinden in den Betrachtern zu wecken, was dem republikanischen Projekt nur zugutekommen konnte. Andere Stimmen freilich warnten davor, sich zu früh dem Luxus der Kunst zu widmen, die allzu leicht als Ausdruck von Verschwendung und individualistischer Abkehr von den gemeinschaftlichen Aufgaben verstanden werden konnte.

Vor diesem kulturellen Hintergrund untersucht Wendy Bellion in ihrer Studie das Aufkommen und die große zeitgenössische Verbreitung von ganz besonderen künstlerischen Objekten: illusionistischen Gemälden (trompe-l'œil), Geräten zur Herstellung flüchtiger, projizierter Bilder wie etwa die laterna magica sowie öffentliche Shows, in denen das Publikum durch optische Täuschungen wie dem scheinbaren Verschwinden von Menschen oder Tieren unterhalten werden sollte. Zusammengenommen und in wechselseitigem Austausch mit einer Vielzahl von Texten sowie anderen Kunstwerken konstituierten diese Objekte und Phänomene, so Bellions These, ein visuelles Feld, in dem eine Dialektik von Täuschung und kritischem Erkennen sich mit der geforderten Subjektivierung von Staatsbürgern verband: "More specifically, [the book] contends that illusions functioned to exercise and hone skills of looking. During an era in which the senses were politicized as agents of knowledge and action, public exhibitions of illusions challenged Americans to demonstrate their perceptual aptitude." (5)

Bellion konzentriert sich bei ihren Untersuchungen vor allem auf Philadelphia in den ersten Dekaden nach der Gründung der Vereinigten Staaten. Philadelphia war in dieser Periode die bedeutendste Stadt in Nordamerika, ein politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum, Regierungssitz während der 1790er-Jahre und auch nach der Jahrhundertwende Ausgangspunkt vieler nationaler Debatten. Als Hafenstadt und Knotenpunkt in den transatlantischen Handelsbeziehungen besaß die Stadt eine sehr internationale Bevölkerung. Sie war Heimat zahlloser politischer und intellektueller Clubs und Vereinigungen, und daher wundert es nicht, dass Philadelphia auch das Zentrum der Künste in der jungen Republik ausmachte. Unter den Bürgern waren wichtige Sammler und Förderer, mehrere einflussreiche Akademien, Bibliotheken und Museen entstanden. Bellion charakterisiert die Stadt als ein "laboratory for looking" (8), und sie bezieht sich dabei auf die besondere Konstellation Philadelphias als Metropole, in der eine soziale und kulturelle Elite Kunst und ihre Vorstellungen von Kunst in öffentlichen Räumen mit einer großen, heterogenen Bevölkerung teilte und auf diese Weise einen Prozess in Gang setzte, in deren Verlauf Rolle und Funktion von Kunst im republikanischen Gemeinwesen ausgehandelt wurde.

In diesen, ihrem Wesen nach eminent politischen Debatten kam, so Bellions Auffassung, der Frage nach Täuschung und kritischem Erkennen eine Schlüsselrolle zu: "Far from being irrelevant to a program of civic edification, trompe d'oeil images were as political as any picture of an American eagle or figurative allegory of Columbia." (14) Die Autorin verfolgt diese Annahme in sechs analytischen Kernkapiteln.

Im ersten beschreibt sie die materielle Welt der visuellen Kuriositäten des ausgehenden 18. Jahrhunderts, reisende Schausteller und Kleinkünstler, die in Tavernen, auf städtischen Plätzen oder auch in Privathäusern Trugbilder in Schaukästen oder mithilfe ihrer "magischen" Projektionsapparate vorführten. Sie erreichten auf diese Art ein breites Publikum von sowohl gebildeten wie "einfachen" Menschen und schafften es, die Auseinandersetzung mit der Täuschung auch auf die Agenda der Kunst zu transportieren.

Die folgenden Kapitel widmen sich daraufhin hochkulturellen Produkten: Bellion bietet eine dichte Beschreibung von Charles Wilson Peales Gemälde Staircase Group an, einer 1795 entstandenen optischen Täuschung, die zwei Menschen auf einer Wendeltreppe darstellt. Das Bild hing damals im Parlamentsgebäude und lud auf seine Weise dazu ein, hinter die Kulissen der Politik zu sehen, sie gewissermaßen zu durchschauen (Kap. 2).

Im Anschluss daran wendet sich die Autorin einer Serie von 28 Gravuren zu, die William und Thomas Birch zwischen 1798 und 1800 anfertigten und Abbildungen von Straßenszenen Philadelphias zeigen. Durch einen Abgleich der gedruckten Zeichnungen mit Entwürfen diskutiert Bellion die Perspektivität zeitgenössischer Bilder, denen nicht so sehr daran gelegen gewesen sei, Exaktheit abzubilden, sondern vielmehr bewusst subjektive, verzerrte Blickwinkel einzufangen und sie so einer politischen Kritik zu unterziehen (Kap. 3).

Kapitel 4 konzentriert sich erneut auf ein einzelnes Gemälde, Samuel Lewis' A Deception aus der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts. Hieran verhandelt Bellion die Selbstreflexivität und auch Selbstironie, mit der sich zeitgenössische Künstler dem Thema von Täuschung und kritischer Erkenntnis zuwandten. Lewis' Spiel mit Original und Fälschung interpretiert Bellion als eine direkte Aufforderung an das damalige Publikum, die Auffassungsgabe und das eigene Unterscheidungsvermögen zu testen; das Gemälde fragt in ihrer Sicht nach der Kompetenz, eine vermeintlich rationale Entscheidung zwischen wahr und falsch zu treffen.

Im folgenden Kapitel 5 thematisiert die Autorin eine seinerzeit besonders populäre Form der Täuschung, die sogenannte Invisible Lady, eine mechanische Vorrichtung die es für das Publikum während einer Vorführung fast unmöglich machte, zu entscheiden, von welcher Stelle im Raum eine weibliche Stimme zu hören war. In einer besonders originellen Lesart verknüpft Bellion die Diskussion um die Attraktion der Invisible Lady mit den parallel geführten, kontroversen Debatten um die politischen Rechte von Frauen. Die Installation, so Bellion einerseits, "put female orality on display". Doch stellte sie andererseits keineswegs ausschließlich eine protofeministische Produktion dar, den die Invisible Lady "functioned to reflect the emerging limits on female speech" (275). Nicht allein optischen Täuschungen kam eine Rolle im Feld des Politischen zu, so unterstreicht die Autorin an dieser Stelle, sondern es galt darüber hinaus auch andere Formen sinnlicher Wahrnehmung zu schulen. Im Schlusskapitel verlagert Bellion ihre Argumentation in die 1820er-Jahre und macht dabei einen deutlichen Wandel sowohl bei den Täuschungen selbst als auch bei ihrer Rezeption fest, auf beiden Ebenen nimmt ihre unmittelbare politische Bedeutung ab. Stattdessen thematisieren die illusionistischen Gemälde dieser späteren Periode Vorstellungen von Nostalgie und Sehnsucht, die eher den Wunsch der Betrachter nach einem Austreten aus den komplexer werdenden Anforderungen der Zeit zum Ausdruck brachten.

Bellions These, die Genese eines Citizen Spectators in den ersten Dekaden der Geschichte der Vereinigten Staaten als das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit optischen und anderen sinnlichen Täuschungen zu erklären, ist ohne Frage ambitioniert. Die Autorin kann mit ihren originellen Interpretationen zeigen, dass die Schulung des Erkenntnisvermögens, der Fähigkeit zur Unterscheidung von Original und Fälschung, von Wahrheit und Täuschung ohne Zweifel zum aufklärerischen Programm der damaligen Eliten gehörte und den Künstlern (ebenso wie den Schaustellern und Artisten) darin eine wichtige Rolle zukam. Überzeugen kann Bellion immer dann, wenn es ihr gelingt ihre Argumentation auf besonders populäre Formen von Täuschungen auszuweiten, die den zeitgenössischen Betrachter in ihrer ganzen Materialität in das unsichere Feld der Wahrnehmung führten, im Abschnitt über die Invisible Lady beispielsweise. In diesen Passagen des Buchs zeigen sich die Dichte dieses zeitgenössischen Diskurses und seine Dependenzen mit Fragen um die politische Partizipation großer Gruppen der Bevölkerung. An anderen Stellen vermag Bellion ihre Objekte lediglich auf die Debatten unter Intellektuellen zurückzubeziehen, dort bleibt das Buch dann zu sehr auf eine Elite fokussiert, ist dort zu "weiß" und zu "männlich", worüber sich die Autorin aber auch durchaus bewusst ist. Insgesamt ist Citizen Spectator eine stimulierende Lektüre, Bellion schreibt in einer engagierten Sprache und fordert Leserinnen und Leser durch prägnante Formulierungen immer wieder auf, ihrer Fährte durch die Welt der sinnlichen Täuschungen in den frühen USA zu folgen. Dabei erweisen sich die sehr vielen im Buch enthaltenen Reproduktionen, zum Teil ganzseitig und in Farbe, als wertvolle Wegweiser. Citizen Spectator lässt so auch ein heutiges Publikum an den vielfältigen Formen der optischen Täuschungen teilhaben.

Olaf Stieglitz