Idesbald Goddeeris (ed.): Solidarity with Solidarity. Western European Trade Unions and the Polish Crisis, 1980 - 1982, Lanham, MD: Lexington Books 2010, XIV + 307 S., ISBN 978-0-7391-5070-2, USD 80,00
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Die polnische Krise der frühen 1980er Jahre gerät zunehmend in den Blick der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Nach Arbeiten zur Geschichte der Solidarność (NSZZ) und deren Bedeutung für den Zusammenbruch des Ostblocks 1989 stellt der von Idesbald Goddeeris herausgegebene Tagungsband erstmals die Frage nach der Rolle der westeuropäischen Gewerkschaften. Die weitgehend auf Archivalien basierenden, nach Ländern gegliederten Beiträge behandeln die Gewerkschaften Belgiens, der Bundesrepublik Deutschland, Dänemarks, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Österreichs, Schwedens und Spaniens. Hinzu kommt ein Beitrag zum Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) und dem Weltverband der Arbeitnehmer (WVA). Im Folgenden sollen die Länderbeiträge anhand der Kategorien Ideologie, Religion, Innenpolitik und internationale Lage analysiert werden.
(1) Ideologie: Ein wichtiges erstes Ergebnis ist, dass die Solidarność von westeuropäischen Gewerkschaften unterschiedlicher Couleur unterstützt wurde, die politische Ausrichtung der einzelnen Gewerkschaft also nicht ausschlaggebend für ihre Haltung gegenüber der NSZZ war. Das verbindende Element war dabei der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht freier Gewerkschaften. Mit dieser gewerkschaftlichen Solidarität eng verknüpft war die mehrheitliche Ablehnung jeglicher Unterstützung der NSZZ als politische Bewegung. Dies galt für die italienische Confederazione italiana sindacati di lavoratori (CISL), die bereits Mitte der 1970er Jahre Kontakte zu polnischen Oppositionellen geknüpft hatte, ebenso wie für den britischen Trades Union Congress (TUC), der umfangreiche Beziehungen zu den staatlich-kommunistischen Gewerkschaften des Ostblocks unterhielt. Die verschiedenen Formen der Unterstützung wie öffentliche Stellungnahmen und Solidaritätskundgebungen, Spendensammlungen und materielle Hilfe durch die Lieferung von Papier, Druckern und Kopiergeräten ähnelten sich in den meisten westeuropäischen Ländern. Auf direkte finanzielle Unterstützung der Solidarność wurde - meist auf persönliche Bitte Lech Wałęsas - verzichtet, um nicht Wasser auf die Mühlen sowjetischer Interventionsvorwürfe an den Westen zu schütten. Eine herausragende Stellung nahmen zweifellos die französischen Gewerkschaften ein. So gelang es der Confédération française démocratique du travail (CFDT), die sich selbst als Architekt der materiellen und ideologischen Solidarität mit Solidarność verstand, gemeinsam mit der Force ouvrière (FO), der Fédération de l´éducation nationale (FEN), der Confédération française des travailleurs chrétiens (CFTC) und der Confédération générale des cadres (CGC) unmittelbar nach der Ausrufung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 Massenproteste in 128 französischen Städten zu organisieren. Wenige Tage später folgte ein einstündiger Generalstreik, gefolgt von diversen Veranstaltungen mit französischen Intellektuellen und Attraktionen wie NSZZ-Postkarten, Briefmarken, Taschen, Aufklebern etc. Angesichts dieser auffällig aktiven Teilhabe der Franzosen liegt die Frage nahe, welche Bedeutung der revolutionären politischen Kultur und dem traditionellen französischen Sendungsbewusstsein für diese Haltung zukam.
(2) Religion: Wenig überraschend fühlten sich die italienischen Gewerkschaften, allen voran die der Democrazia Cristiana (DC) nahestehenden CISL, der stark katholisch geprägten Solidarność besonders verbunden. Nicht zufällig war Italien das erste westliche Land, dem Lech Wałęsa im Januar 1981 einen Besuch abstattete, dessen Höhepunkt eine Audienz bei Papst Johannes Paul II. bildete. Ob die italienischen Gewerkschaften deshalb eine Pionierrolle in den Beziehungen der NSZZ zum Westen einnahmen, wie Sandra Cavallucci und Nino de Amicis in ihrem Beitrag postulieren, sei dahingestellt. Auch für die belgischen Gewerkschaften spielte die enge Anlehnung der Solidarność an die katholische Kirche eine nicht zu unterschätzende Rolle. Demgegenüber bildete gerade dies für einen Großteil der westeuropäischen Gewerkschaften ein Hemmnis. Das galt für die schwedische Landsorganisationen i Sverige (LO) oder den britischen TUC wie für die spanische Unión Sindical Obrera (USO). Spanien war zwar ein katholisch geprägtes Land, doch hatte die Kollaboration der Kirche mit der Diktatur deren Glaubwürdigkeit beschädigt und führte daher zu einer eher reservierten Haltung gegenüber der NSZZ.
(3) Innenpolitik: Die Rolle der jeweiligen innenpolitischen Konstellation bewertet Goddeeris in seiner Einleitung folgendermaßen: Die Gewerkschaften in sozialdemokratisch geführten Ländern wie Dänemark, Österreich und der Bundesrepublik Deutschland hätten eine eher gemäßigte Haltung eingenommen und versucht, möglichst diskret Hilfe zu leisten, um die Bemühungen ihrer Regierungen um die Aufrechterhaltung der Beziehungen zum Osten nicht zu konterkarieren. Relativiert wird diese Diagnose durch die Tatsache, dass sich sowohl die schwedische LO als auch der britische TUC um einen Weg der Mitte bemühten. Hinzu kommt, dass gerade in Frankreich die Gewerkschaften öffentlichkeitswirksam gegen die Verhängung des Kriegsrechts protestierten und die linksgerichtete Regierung unter Präsident Mitterrand damit unter Druck geriet. Vielleicht entscheidender erscheint der jeweilige Zersplitterungsgrad der Gewerkschaftsbewegung in den einzelnen Ländern. So bemühte man sich gerade in denjenigen Staaten, die mehr als eine Gewerkschaft hatten (Belgien, Italien, Frankreich, Spanien), um möglichst große Solidarität mit Solidarność, um sich so von den Konkurrenten abzusetzen und innenpolitisch zu profilieren. Insgesamt bleiben die Interdependenzen zwischen gesellschaftlicher und politischer Ebene in den meisten Beiträgen unterbelichtet.
(4) Internationale Lage: Ebenfalls ein wenig zu kurz kommt die internationale Kontextualisierung. Zwar verweist Klaus Misgeld zu Recht darauf, dass die kontinuierlich gemäßigte Haltung der LO auch auf die schwedische Tradition der Neutralität zurückzuführen ist. Österreich wiederum hatte nicht zuletzt deshalb ein vitales Interesse an stabilen Beziehungen zu Polen, so Oliver Rathkolb, weil man von polnischen Kohlelieferungen abhängig war und zudem ein Anschwellen des Flüchtlingsstroms aus dem Osten befürchtete. In ihrem Beitrag zur Bundesrepublik verweisen Friedhelm Boll und Małgorzata Świder zwar auf die historisch spezifischen deutsch-polnischen Beziehungen und die enge Anlehnung des DGB an die Regierung Schmidt. Dennoch ließe sich fragen, ob und, wenn ja, welcher innere Zusammenhang zwischen dem Agieren der westeuropäischen Gewerkschaften einerseits und der sicherheitspolitisch dominierten Regierungspolitik andererseits bestand, die durch NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegungen, durch die Krisenherde Iran und Afghanistan sowie durch die medial aufgeladene Sorge um einen Kriegsausbruch geprägt wurde. Welche Wechselwirkungen bestanden zwischen gewerkschaftlichen Protesten und den Friedensbewegungen? Welche Rolle spielten sicherheits- und entspannungspolitische Argumente im innergewerkschaftlichen Diskurs?
Alles in Allem bietet der Sammelband dem Leser ein facettenreiches Bild und lädt zu weiterführenden Fragen ein. Denkbar sind weitere Ausdifferenzierungen durch Lokal- und Regionalstudien, Arbeiten über den Grad der transnationalen Verflechtung der Gewerkschaften und Untersuchungen über mögliche Rückwirkungen der polnischen Krise auf die weitere Entwicklung der Gewerkschaftsbewegungen und deren Verortung in der politischen und gesellschaftlichen Kultur des jeweiligen Landes. Des Weiteren wäre die Gegenüberlieferung der bislang westeuropäischen Sichtweise durch entsprechende Auswertung polnischer Quellen interessant. Der lesenswerte Sammelband leistet somit insgesamt nicht nur Pionierarbeit, sondern bietet darüber hinaus eine Fülle an Anregungen für die künftige Forschung.
Agnes Bresselau von Bressensdorf