Christian Janecke: Maschen der Kunst, Springe: zu Klampen! Verlag 2011, 237 S., ISBN 978-3-86674-159-1, EUR 19,80
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Hand aufs Herz: Wissen Sie, was "Beiläufigkeitskultivierung" oder "Irreversibilismus" oder etwa "Verdichtungsverdichtung" ist? Nie gehört? Dann mag das daran liegen, dass es sich um Wortschöpfungen Christian Janeckes handelt, Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main und Autor der Maschen der Kunst. Neologismen wie diese betiteln die insgesamt 36 Maschen der zeitgenössischen Kunst, über die Janecke auf gut 230 Seiten aufklärt, mal ironisch-wohlwollend, mal disputfreudig, mal polemisch-angriffslustig, niemals aber beckmesserisch oder resentimentbeladen - und immer in einem 'Sound', den man in der deutschsprachigen Kunstgeschichte nun wirklich selten vernimmt.
Der Autor will, wie er in der Einleitung vermerkt, die zeitgenössische Kunst "auf stete Muster, auf bestimmte Kniffe, Tricks und unterschwellige Formeln" (10) hin durchforsten - und präsentiert seine Ergebnisse in lexikalischen, meist sechs- bis achtseitigen, flott daherkommenden Kurzeinträgen, die thematisch von "Amoralismus" bis "Wortwörtlichkeit" reichen (dazwischen finden sich solche Trouvaillen wie "Häufungshumbug", "Mobilitätslook" oder "Traduktionismus"). Dabei geht es Janecke eben gerade nicht um das Individuelle, sondern um das Allgemeine, um das Musterhafte, das Schematische, kurz: um das Maschenhafte; es geht ihm nicht um die individualkünstlerische Macke, sondern um "das den Einzelfall übersteigende Verallgemeinerbare" (21).
Als Grundkoordinaten seiner Streifzüge durch das Maschenhafte (in) der Kunst, dient Janecke die Beobachtung, dass der Blick für diese Maschen, "sogar für die offensichtlichen Maschen, nur allzu oft verstellt [wird] durch eine Melange aus Respekt, Seilschaft, Vorsicht, Desinteresse, Müßigkeit" (15). In der Tat: Mit seinem Projekt schlägt Janecke eine Perspektive auf Gegenwartkunst ein und vor, die sich gerade nicht ins Monografische verbohrt oder im Diskurshubernden irrlichtert und sich auch nicht mit einer bloß affirmativen Haltung gegenüber der Kunst sowie mit einem devoten Habitus gegenüber dem Künstler um die eigene Kritikfähigkeit bringt. Kritik, das meint hier freilich nicht ein randständiges Gemoser und akademische Besserwisserei; es meint eine engagierte, Position beziehende, vor allem aus der breiten Kenntnis der Gegenwartkunst (aber eben auch aus der historischen Fundierung des Kunstwissenschaftlers) argumentierende Auseinandersetzung; es meint distanzierte Analyse und scharfe Diagnose, was nicht heißt, dass die gewonnenen Erkenntnisse nicht auch - wie in diesem Buch - in schmissiger Weise vorgetragen werden könnten. Kritik derart verstanden, verlangt dem Autor gewiss eine breite Kenntnis der zeitgenössischen Kunst ab und setzt deren analytische Durchdringung voraus, kommt aber auch, wie die Lektüre des Buches rasch deutlich macht, nicht ohne Reprisen auf die ältere Kunst aus.
In seinen lexikalischen Kurzeinträgen nun - die ein Querlesen und Springen in der Lektüre gestatten, ja geradezu herausfordern - nennt Janecke mal Ross und Reiter der Maschen der Kunst, geht also mal offenen Visiers an einschlägige, ebenso wie an periphere Beispiele heran (so wird beispielsweise im Eintrag "Kausaldiskrepanz" Markus Lüpertz unverhohlen als "begnadeter Prahlhans" abgewatscht, der sich "auch heute noch dafür feiern" lasse, "dass alles, was er nur wie nebenbei" (123) berühre, Gestalt werde). In anderen Fällen belässt Janecke es hingegen, was die VertreterInnen bestimmter Maschen betrifft, bloß bei gewitzten Andeutungen oder durchschaubaren Anspielungen. Ein anderes Mal wiederum fingiert er gar ein Beispiel, um die entsprechende Masche idealtypisch zu veranschaulichen. Das mag prima vista zwar unlauter erscheinen, etwa wenn Janecke unter dem Eintrag "Belanglosigkeitsausdifferenzierung" das Exemplum einer fotokünstlerisch-seriellen Dokumentation der Innenräume autoloser Vorstadt-Garagen erfindet, um damit eine allgemeine Strategie der aufmerksamkeitheischenden Serialisierung von etwas Belanglosem als Einzelaufnahme zu illustrieren. Tatsächlich aber hat (wie dann aus dem Postskriptum dieses Eintrags zu erfahren ist) die Realität Janeckes Fiktion längst eingeholt: in Form einer künstlerischen Arbeit, die sich genau dieses Sujets annimmt und sich damit der vom Autor beschworenen Masche bedient, ja diese allererst exemplifiziert. Man möchte daraus fast schließen, dass es allein der Erfindung einer Masche bedarf, um diese im zeitgenössischen Betrieb tatsächlich denn auch eingelöst zu finden.
Kritik? Ja! Der Verlag hätte - kein Scherz - diesem handlichen Büchlein ein, besser: mehrere Lesebändchen gönnen sollen. Immer wieder möchte man hin- und herspringen, möchte die Maschen der Kunst auch aus der Hand legen, um dem Gelesenen nachzusinnen; denn dieses Buch ist nicht nur amüsant sondern eben auch inspirierend geschrieben. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, der dafür spricht, beim Lesen Zäsuren zu setzen. Janecke ist ein Meister der Erfindung neuer Substantive und der Substantivierung von Adjektiven. Wo sonst hat man schon einmal von "Novitätenfrequenz" und "Produktobsoleszenzen", von "Disponibilitätspathos", "Evidenzfetischismus" und "Kriterienparalyse", von "Ur-Ideenhaftigkeit" und "Pentimentismus" gelesen? Allesamt Begriffe, zu denen google (mittlerweile die heimliche Letztinstanz deutscher Rechtschreibung) keinen einzigen Treffer zu verzeichnen weiß. Indes sind solche Wortneuschöpfungen in diesem Buch nicht Folge versponnener Wortdrechselei, sondern resultieren aus dem analytischen Ringen, die Phänomene begrifflich präzise zu fassen, also das, was noch nicht auf den Begriff gebracht ist, sprachlich zu bannen. Janeckes verbaler Erfindungsreichtum, seine Formulierlust und die sprachlichen Kaskaden, die er zu zimmern versteht, genießt man also am besten in gemäßigten Portionen, um sich an ihnen nicht zu übersättigen.
Mit seinem Buch setzt Christian Janecke stilistisch und inhaltlich einen neuen Akzent in der kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst. In Diktion und Duktus eröffnet es einen alternativen Zugang zur Gegenwartskunst, macht sich damit aber zweifelsohne streitbar. Und wer nach der Lektüre der Maschen der Kunst in absehbarer Zeit eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst besucht, wird sich vermutlich angesichts des ein oder anderen Exponats ein Schmunzeln nicht verkneifen können - in Anbetracht der Maschen, die KünstlerInnen bis heute pflegen und darüber hinaus weiter entwickeln.
Lars Blunck