Alexander Demandt: Philosophie der Geschichte. Von der Antike zur Gegenwart, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011, 438 S., ISBN 978-3-412-20757-1, EUR 34,90
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In zwei Rahmenkapiteln und 14 thematischen Essays handelt Demandt sein gewaltiges Thema ab. Jeder dieser Essays besteht aus Miniaturen, in denen das Geschichtsdenken eines Autors oder ein Thema dargestellt und diskutiert wird. Diese Miniaturen sind in nummerierte Absätze unterteilt - und eine mit einem Stichwort zu jedem dieser Absätze versehene "Detailübersicht" erschließt all diese Nummern zum Wiederlesen. Das ist wirklich praktisch, sofern man die Assoziationen des Autors verinnerlicht, aber ein Namenregister wäre bei der Überfülle von Nennungen doch auch praktisch gewesen; ob etwa über Jaspers etwas zu erfahren ist, lässt sich schlicht nur mit einer Durchsicht der Zitatbelege im Anmerkungsteil feststellen.
Dem Gedanken von einem Abstieg in der Menschheitsgeschichte von Beginn an und dem entgegengesetzten von einem Aufsteigen sind die beiden ersten Essays gewidmet. Hier wie im folgenden Essay über frühe Kreislauftheorien greift der Autor zuweilen über die mediterrane Welt hinaus, referiert ägyptische, mesopotamische, persische und jüdische Vorstellungen zyklischer und linearer Art; den hauptsächlichen Bezug findet er jedoch in griechischen und biblischen Mythen und Texten. Die "jüdisch-christliche Heilsgeschichte" nimmt einen besonderen und für die späteren Ausführungen entscheidenden Platz ein; es versteht sich, dass die Idee der Reichsfolge und Augustinus' Lehre von zwei Staaten hier die zentrale Rolle spielen.
Im Folgenden werden nur mehr abendländische Denker behandelt, zwar mit der Ausnahme von Ibn Khaldun, den er jedoch als aus spanisch-arabischer Familie stammend einführt. Boccaccio, Machiavelli, Bodin, Bacon und Vico sind die anderen in dem Kapitel über das "Epochenbewußtsein der Renaissance" dargestellten Denker. Mit der "Geschichte als Aufklärung" wird die explizit so benannte Geschichtsphilosophie eröffnet; nach "frühen Stimmen aus Frankreich" (wie Turgot und Rousseau) werden ausführlicher Lessing, Herder, Kant, Condorcet und Comte, sowie Popper besprochen. Darauf folgen "Der Historische Idealismus" (Fichte, Schelling, Hegel, Humboldt) und "Goethes universaler Individualismus" als eigene Kapitel. "Der Deutsche Historismus" wird nicht nach Autoren, sondern nach Themen ("Entwicklung", "Individualität", "Staat", "Politik", "Di[sic!] Pandorabüchse des Historismus") behandelt und ähnlich auch "Der Historische Materialismus". Das Kapitel über "Paradigmatische Geschichtskonzepte" handelt über Burckhardt, Nietzsche und Weber, als "Morphologien der Weltgeschichte" werden vor allem Spenglers und Toynbees Thesen vorgestellt, als "Geschichtsbiologismus" die Theorien von Gobineau, Darwin, Chamberlain, Freud und Lorenz besprochen. Unter dem Titel "Posthistorische Endzeit" werden abschließend nicht nur alte und neue Endzeitmythen rekapituliert, sondern mit der Postmoderne gleich alle "postfixierten Strömungen" abgetan, die uns zusammen mit den "'neo'-bestückten Richtungen" ins "sprachliche Nirwana" führen, einen "Übertritt ins Niemandsland der Nachgeschichte" (322) darstellen. Der Abgesang zu einem erschöpften Thema nach einer so kenntnisreichen, reich facettierten Schilderung?
Zumindest das erste und letzte, teilweise auch das vorletzte Kapitel des Buches stellen den Versuch dar, Fragen einer Theorie der Geschichte und der Geschichtsschreibung zu ordnen und die dargestellten Theorien zu werten. Reflektiert das Eingangskapitel die Begriffe von Geschichte, Geschichtlichkeit, Geschichtsphilosophie, Geschichtswissenschaft und beschreibt letztere als "nur eine, aber die umfassendste Wissenschaft vom Menschen" (31), so resümiert das Schlusskapitel noch einmal das reichhaltig entfaltete Gedankengut und befragt es auf seine Orientierungskraft hin, für die Wissenschaft wie für das Leben. In beiderlei Hinsicht fällt die Antwort auf den Frager zurück: "Ob [...] jemand von allen Geschichtsphilosophien gleichermaßen abgestoßen wird, ob er sich zu einer bestimmten hingezogen fühlt oder ob er eine eigene entwickelt, das beruht auf seiner Persönlichkeit" (359f.).
Darauf dürfte auch beruhen, wie zugänglich einem die zahlreichen Exkurse und Kommentare sind. Wenn zum Beispiel unter der Überschrift "Asiatische Urzeitmythen" relativ ausführlich auf einen Klassiker des Daoismus Bezug genommen wird, könnte man noch mehr erwarten, den Konfuzianismus und den Legalismus zumindest, zumal für alle großen Richtungen der klassischen chinesischen Philosophie die Frage nach dem Urzustand geradezu symptomatisch war und daraus eine der großen historiographischen Traditionen der Menschheit entwickelt worden ist. Es kommt aber nichts weiter, wenn man von dem kryptischen Verweis im Schlusskapitel auf ein "traditionelles chinesisches Zeitempfinden" (356) absieht, zu dem dann weiter nichts gesagt wird. Zhuang Zi war also doch nur ein dekorativer Exkurs. Dergleichen Exkurse gibt es viele, in unterschiedlichen Zusammenhängen; manchmal sind sie verkürzt in einen kaustischen Aphorismus oder eine lateinische Sentenz, manchmal ausführlich, fast immer sind sie illustrativ, zuweilen amüsant; wie lehrreich sie sind, hängt wohl von einem sympathetischen Mitgehen mit den Assoziationen des Autors ab. Wenn er den Daoismus-Exkurs abschließt mit der Bemerkung, dass "sich der Chinese in die Kontemplation zurück" ziehe (42), so wäre interessant gewesen, was er zu einem Legalisten wie Han Fei in derselben Frage gesagt hätte und ob dann sein Vergleich mit Hesiod als dem Griechen, der "das Verhalten und damit die Verhältnisse" ändern will, überhaupt möglich gewesen wäre - zieht sich der Legalist doch mitnichten zurück, ist aber ebenso Chinese.
Die Vorlesungen, die diesem Buch offensichtlich zu Grunde liegen, müssen faszinierend gewesen sein, faktenreich, spannend, anregend. Der Zettelkasten, aus dem sie gespeist wurden, muss eindrucksvoll sein, der Stil ist nie unpersönlich, stets lebendig. In einem Buch jedoch, gar mit diesem allgemeinen Titel, hätte der Stil der Vorlesung weniger dominieren dürfen, hätten systematischere Fragestellungen und wohl auch andere Literaturen eine Rolle spielen müssen. Was in dem schön gestalteten, leider aber offensichtlich kaum lektorierten Band (in manchen Abschnitten häufen sich Tippfehler auffallend) vorliegt, ist vielleicht ein Nachlesebuch zu vielen Autoren der abendländischen Tradition, mit deutlichem Schwerpunkt auf deutschen, einer geringeren Berücksichtigung der französischen und einem fast völligen Schweigen zu anderen romanischen oder angelsächsischen Diskursen seit Beginn der Neuzeit. Davon, dass seit dem 20. Jahrhundert alte und auch neue Reflexionen über Sinn und Verlauf der Menschheitsgeschichte aus ganz anderen Weltregionen wahrnehmbar geworden sind, findet sich keine Spur. "Philosophie", das erste Wort im Titel, müsste also eigentlich "Europäische Philosophie" (wie im Klappentext) lauten, und selbst dann kann man das Thema noch einseitig behandelt finden.
Sehen wir davon ab. Fragen wir uns, ob der Band als Nachlese- oder Einführungsbuch zu empfehlen ist für jene Autoren (Autorinnen kommen nicht vor) und Theorien, die darin eben behandelt werden, so ist das nur mit Einschränkungen zu bejahen. Dagegen sprechen die essayistische Behandlungsform und das fehlende Register. Es gibt zu so gut wie allem, was hier dargestellt ist, verlässliche lexikalische Texte. Aber gibt es eine vergleichbare Übersicht? Wohl nicht. Demandts Buch bietet einen detailreichen Überblick über einen wichtigen Teil des Geschichtsdenkens der Menschheit, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Franz Martin Wimmer