Dick de Mildt (Hg.): Tatkomplex: NS-Euthanasie. Die ost- und westdeutschen Strafurteile seit 1945, Amsterdam: Amsterdam University Press 2009, 2 Bde., XLVI + 1747 S., ISBN 978-90-8964-072-7, EUR 195,00
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Die Tötung von unheilbar Kranken und Behinderten während des Zweiten Weltkriegs kann inzwischen als ein relativ gut erforschtes Großverbrechen des Nationalsozialismus bezeichnet werden. Insgesamt wurden im Rahmen der systematischen Tötung von Anstaltsinsassen in der "Aktion T4", der "Kinder-Euthanasie" und der "wilden Euthanasie" bis Kriegsende allein im Deutschen Reich mehr als 100.000 Menschen ermordet. Zusätzlich kamen zehntausende von Patienten der deutschen Heil- und Pflegeanstalten aufgrund bewussten Nahrungsentzugs und mangelhafter ärztlicher Versorgung ums Leben.
Die "Euthanasie" war das erste nationalsozialistische Massenverbrechen, das vor ost- und westdeutschen Gerichten zur Verhandlung kam. Bereits im Jahr 1945 begannen die strafrechtlichen Ermittlungen, und noch bevor der Nürnberger Ärzteprozess eröffnet wurde, fanden 1946 zwei Prozesse in Berlin und Schwerin statt, in denen sich zwölf Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger der Anstalten Meseritz-Obrawalde und Sachsenberg vor deutschen Gerichten verantworten mussten und sechs von ihnen zum Tod verurteilt wurden. Es folgten noch in den 1940er Jahren zahlreiche weitere Prozesse, etwa zu den Tötungsanstalten der "Aktion T4" Grafeneck, Hadamar, Brandenburg, Bernburg und Sonnenstein. Die erste Prozesswelle kam sowohl im Osten wie auch im Westen 1952/53 zum Abschluss. Nach anfangs hohen Strafen zeichnete sich dabei in der Bundesrepublik zu Beginn der 1950er die Tendenz ab, immer mehr Beteiligte freizusprechen; teils weil man ihnen fehlendes Unrechtsbewusstsein zugutehielt, teils weil man ihre Angaben akzeptierte, sie hätten nur widerwillig und bremsend mitgemacht, um Schlimmeres zu verhüten. Erst Ende der 50er Jahre begannen auf Initiative des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer neue und umfassende Ermittlungen, die sich vor allem auf die "Euthanasiezentrale" konzentrierten und noch einmal zu einigen Prozessen führten. Der letzte fand 1986/87 in Frankfurt am Main statt. Das dortige Landgericht verurteilte zwei von der "T4"-Zentrale in die Anstalten Brandenburg und Bernburg entsandte Ärzte zu jeweils vier Jahren Freiheitsentzug wegen Beihilfe zum Mord, einer Strafe, die 1988 durch den Bundesgerichtshof im Revisionsurteil auf drei Jahre gemindert wurde.
Die vorliegende zweibändige Edition versammelt die Urteile von 42 deutschen Strafprozessen - 30 west- und 12 ostdeutschen - wegen nationalsozialistischer "Euthanasie"-Verbrechen im Reich. Die Urteile bieten eine Fülle von Informationen und bilden Verlauf und Ausmaß der "NS-Euthanasie" relativ gut ab. Alle sind sie jedoch bereits einmal im Rahmen der Reihen "Justiz und NS-Verbrechen" und "DDR-Justiz und NS-Verbrechen" veröffentlicht worden. Das lässt Zweifel am Nutzen der beiden teuren Wälzer aufkommen und den Verdacht einer reinen Zweitverwertung aufkeimen. Dieser wird bestärkt durch das Fehlen jeglicher Einführung in die Thematik, obwohl der Herausgeber sogar schon einschlägig publiziert hat. [1] Problematisch erscheint besonders, dass weder die juristischen Grundlagen der Strafverfolgung noch deren unterschiedliche rechtliche und politische Voraussetzungen in Ost und West dargelegt werden. Aber auch eine Einordnung der "Euthanasie"-Prozesse in den Gesamtzusammenhang der Ahndung von NS-Verbrechen und eine zusammenfassende Beschreibung und Bewertung der Verfahren wäre wünschenswert gewesen. Das nur wenig mehr als eine Seite umfassende Vorwort (Vf.) legt lediglich einige Editionskriterien dar. Die Urteile sind in den beiden Bänden chronologisch gegliedert abgedruckt. Die Erschließung erfolgt mittels eines Inhaltsverzeichnisses und mehrerer Register, die etwa eine Suche nach den Namen der Angeklagten (häufig anonymisiert), den Gerichtsentscheidungen, den Dienststellen, den rechtlichen Tatbeständen und den Tatorten ermöglichen.
Nachzuvollziehen ist das Weglassen der sechs Waldheim-Urteile, die inhaltlich wegen des grob rechtsstaatswidrigen Fehlens einer Beweisaufnahme kaum zuverlässige Erkenntnisse bieten. Bedauerlich ist es jedoch, dass der Herausgeber nicht noch weitere Recherchen nach den Akten der Prozesse angestellt hat, die bei Veröffentlichung der alten Reihen zwar bekannt gewesen waren, deren Urteile jedoch nicht hatten aufgefunden werden können. Dann hätte er nämlich zumindest zwei davon, die Nr. 1345 und 1616 - nicht wie angegeben 1617 (V) -, bei der Stasiunterlagenbehörde und im Hauptstaatsarchiv Weimar auffinden können. Und er wäre vielleicht auch darauf gekommen, dass er noch gar nicht "alle" (V) rechtskräftig abgeschlossenen deutschen Gerichtsverfahren zur NS-Euthanasie kennt. Denn es fehlen die Urteile Meinigen StKs 29/48 (zu Grafeneck) und Nürnberg-Fürth Ks 16/49 (zu Erlangen), die beide überliefert sind, völlig.
Trotz der geschilderten Mängel wird der Spezialist die Edition wahrscheinlich nutzbringend finden, versammelt sie doch kompakt das, was er sich sonst aus 28 Bänden der beiden Reihen mühsam zusammensuchen muss. Und sie bietet noch einen weiteren entscheidenden Vorteil. Mit den Büchern erwirbt man das Recht, sich die Edition als PDF-Dokument aus dem WWW herunterzuladen und kann anschließend ohne Einschränkungen im Volltext der publizierten Urteile recherchieren.
Anmerkung:
[1] Dick de Mildt: In the Name of the People: Perpetrators of Genocide in the Reflection of their Post-War Prosecution in West Germany. The "Euthanasia" and "Aktion Reinhard" Trial Cases, The Hague u. a. 1996.
Andreas Eichmüller