Gérard Bökenkamp: Das Ende des Wirtschaftswunders. Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969-1998, Stuttgart: Lucius & Lucius 2010, VIII + 569 S., ISBN 978-3-8282-0516-1, EUR 49,00
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Die Ölpreiskrise von 1973 und die dann folgende Rezession von 1974/75 markieren einen wirtschaftshistorischen Wendepunkt. Zu dieser Zeit endete das "deutsche Wirtschaftswunder". Die Überzeugung, dass es im Rahmen der Globalsteuerung möglich sei, die wirtschaftliche Entwicklung zu verstetigen und konjunkturelle Ausschläge zu vermeiden, erwies sich daraufhin als kostspieliger Irrtum.
Die Jahre unmittelbar vor diesem Wendepunkt stellen den Ausgangspunkt der 2010 publizierten Dissertation von Gérard Bökenkamp dar. Denn zu Beginn der sozialliberalen Koalition herrschte Vollbeschäftigung, die Verschuldung der öffentlichen Hand war gering und unter Reformpolitik wurde die Ausweitung staatlicher Leistungen verstanden. Doch seit Mitte der 1970er Jahre setzte eine Entwicklung ein, die bis zum Ende der von Helmut Kohl geführten Bundesregierung 1998 zu einer dauerhaft hohen Arbeitslosenquote, einer enormen Staatsverschuldung und einem gewandelten Verständnis von Reformpolitik führte, die nun vor allem die Begrenzung der negativen Folgen dieser Entwicklung für die öffentlichen Haushalte zum Inhalt hatte. Aus dieser Beobachtung ergibt sich für Bökenkamp "die historische Fragestellung, wie genau sich dieser Prozess im Laufe von drei Jahrzehnten vollzog" (4).
Mittels der Analyse der Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in diesem Zeitraum geht er dieser Frage nach. Dabei stehen die "Handlungen, Motive, Konflikte und Entscheidungen vieler einzelner Akteure [...] im Mittelpunkt der Untersuchung. [...] Das Ziel ist die anschauliche Beschreibung der wirtschaftspolitischen Zusammenhänge, wie sie sich in der realen Welt abzeichneten." (3) Die Arbeit basiert weitgehend auf der zeitgenössischen Presseberichterstattung, vor allem auf Artikeln der Zeit, des Spiegel sowie der Wirtschaftswoche. Die unter quellenkritischen Gesichtspunkten angesichts der Fragestellung des Autors, die sich auch auf Motivlagen der Akteure richtet, problematische Entscheidung, Presseartikel zur Grundlage seiner Arbeit zu machen, begründet er damit, "dass die Berichterstattung von den späteren Ereignissen bestätigt" worden sei und daraus folglich deren Glaubwürdigkeit resultiere (7). Vereinzelt bezieht er sich auch auf die Monatsberichte der Bundesbank, die Jahresgutachten des Sachverständigenrates und auf die Protokolle verschiedener Ausschuss- bzw. Plenarsitzungen des Bundestages. Nach einem Blick in das knapp dreieinhalb Seiten umfassende Literaturverzeichnis wird jedoch schnell deutlich, dass darüber hinaus allerdings die bisherigen Ergebnisse etwa zeit-, wirtschafts- oder sozialhistorischer Forschung zu den verschiedenen von Bökenkamp behandelten Themen dagegen überhaupt nicht berücksichtigt oder gar reflektiert werden. Die aufgrund der üblichen Schutzfristen freilich nur für einen Teil des Untersuchungszeitraums zugänglichen Quellenbestände (etwa Nachlässe oder die Bestände der für seine Arbeit relevanten Ministerien im Bundesarchiv in Koblenz oder der Bestand im Historischen Archiv der Bundesbank) berücksichtigt er gleichfalls ohne eingehende Begründung nicht.
Die Arbeit besteht aus drei Teilen, jeweils einem Kapitel zur Entwicklung in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren. Ausgehend von der positiven wirtschaftlichen Situation zu Beginn der 1970er Jahre zeichnet Bökenkamp nach, wie zunächst von Seiten der Politik versucht wurde, die zunehmend schwieriger werdende ökonomische Situation im Verlauf des Jahrzehnts in den Griff zu bekommen, wie dann im darauffolgenden Jahrzehnt die Konsolidierungspolitik an die Spitze der politischen Agenda rückte und in der zweiten Hälfte der 1980er zu Erfolgen führte, wie sich dann aber wegen der Herausforderungen der Wiedervereinigung die Prioritäten erneut verschoben.
Dies geschieht jedoch nicht im Rahmen einer geschlossenen Darstellung, vielmehr behandelt er innerhalb zahlreicher, jeweils wenige Seiten umfassender Beschreibungen, jene Aspekte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik, die im jeweils betrachteten Zeitraum im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung standen: beispielsweise die Rentenreform von 1972, die Konjunkturpolitik von 1974-1980, die Sanierungspolitik 1982-1984, die Steuerreform 1987/88, die Finanzierung der Einheit 1990-1992 oder Konjunktur und Arbeitslosigkeit 1995-1998.
Presseartikel zur entscheidenden Grundlage der Arbeit zu machen hat zunächst zur Folge, dass seine Darstellung über weite Strecken undifferenziert ist, da durch die Wahl und vor allem die Gewichtung dieser Quellen eben auch nur jene Entwicklungen innerhalb der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik berücksichtigt werden, die durch ihren meist problematischen Charakter im jeweils betrachteten Zeitraum die Aufmerksamkeit der Presseberichterstattung erregten. Durch wenigstens eine andere Gewichtung bereits publizierter Quellen oder überhaupt eine Bezugnahme auf publizierte Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung hätte freilich eher die Möglichkeit bestanden, statt der weithin unkritischen Übernahme der medialen Darstellung eine größere Distanz zu dieser zu gewinnen und gerade damit der Komplexität des Themas gerecht zu werden. Ferner fehlt der Arbeit jegliche Rahmung etwa durch eine Definition dessen, was im Kontext der Arbeit eigentlich unter diesen Politikfeldern zu verstehen ist oder durch eine Einbettung in den allgemeinen wirtschaftshistorischen Kontext.
Obschon also die Herangehensweise nicht sonderlich subtil ist und folglich über weite Strecken die Geschichte dieser Politikfelder undifferenziert behandelt wird, hat diese Arbeit eine aus diesem Mangel resultierende Schwäche, die noch schwerer wiegt. Zwar zergliedert der Autor im Rahmen seiner Analyse den Untersuchungsgenstand, nur werden diese Beobachtungen insgesamt nicht gewichtet, nicht interpretiert, nicht zu synthetischen Urteilen zusammengeführt.
In erster Linie kann mittels der Lektüre der Arbeit Das Ende des Wirtschaftswunders ein Eindruck davon gewonnen werden, wie sich die Spielräume der Akteure innerhalb der von Bökenkamp untersuchten Politikfelder und infolgedessen deren Prioritäten im Spiegel der medialen Wahrnehmung veränderten. Somit analysiert Bökenkamp durchaus - wenn auch aus der Perspektive der zeitgenössischen Presseberichte -, "wie genau" sich der zu Beginn angeführte "Prozess im Laufe von drei Jahrzehnten vollzog" (4). Allerdings gelingt es Bökenkamp weder ein differenziertes, in den allgemeinen wirtschaftshistorischen Kontext eingebettetes Bild dieses Prozesses zu zeichnen noch bietet er darüber hinaus mangels Interpretation der Ergebnisse seiner Analysen Erklärungen für die eingangs geschilderte Entwicklung.
Daniel Wylegala