Douglass C. North / John Joseph Wallis / Barry R. Weingast: Gewalt und Gesellschaftsordnungen. Eine Neudeutung der Staats- und Wirtschaftsgeschichte (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften; Bd. 145), Tübingen: Mohr Siebeck 2011, XVII + 326 S., ISBN 978-3-16-150590-4, EUR 94,00
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Das Unterfangen, einen Begriffsrahmen zu erstellen, "in dem sich zeigen lässt, wie im Laufe der letzten zehn Jahrtausende Gesellschaften politische, wirtschaftliche, religiöse und bildungsorientierte Tätigkeiten im Sinne einer Begrenzung und Eindämmung von Gewalt geregelt haben" (XI) ist alles andere als bescheiden und weckt Abwehr, bevor die Lektüre überhaupt begonnen ist. Dass dieses Unterfangen von Wissenschaftlern angegangen wird, die bereits gezeigt haben, dass sie begrifflich auf höchstem Niveau arbeiten können, unterschiedliche Gesellschaftswissenschaften im Blick haben und dabei auf ihren Gebieten zweifellos zu jenen gehören, die konsequent und immer wieder historisch argumentieren, macht es dann doch wieder leichter, sich auf dieses Unterfangen einzulassen: Douglass C. North hat als Wirtschaftshistoriker den Nobelpreis eben für seine historisch ausgerichtete, am Wandel orientierte Ökonomie erhalten, die als Theorie des institutionellen Wandels in unterschiedlichen Ausprägungen vorliegt [1]; Barry R. Weingast war als Politikwissenschaftler am beeindruckenden Projekt der "Analytic Narratives" beteiligt, das spieltheoretische Modellierungen mit detaillierten analytischen Erzählungen historischer Prozesse verband. [2]
Das Buch erweist sich für theoretisch interessierte und ökonomischen Argumentationen nicht abgeneigte Leser dann auch als sehr produktiv. Ausgangspunkt ist die These, dass Staaten vor allem der Eindämmung von Gewalt dienen, dies aber in unterschiedlicher Weise tun. In den von den Autoren sogenannten "natürlichen Staaten", die historisch die ältere Ausprägung darstellen, organisieren sich zu Gewalt fähige Gruppen innerhalb einer Gesellschaft derart, dass eine wechselseitige tatsächliche Gewaltanwendung sie schlechter stellen würde als der wechselseitige Verzicht auf Gewalt. Das erreichen sie durch gemeinsame, systematische Abschöpfung von Renten im ökonomischen Sinne, das heißt durch das Ausnutzen jenes Teils des Ertrages aus wirtschaftlicher Tätigkeit, "der den Ertrag desselben in seiner zweitbesten Verwendung übersteigt" (20) - mit anderen Worten: Eliten bilden Umverteilungsnetzwerke (rent-seeking). Herrschaft und Rentenzugang sind persönlich definiert. Die jüngere Form der Staaten mit Zugangsfreiheit zeichnet sich hingegen vor allem durch Unpersönlichkeit aus. Gewalt wird eingedämmt, indem Gewaltorganisationen einer staatlichen Herrschaft untergeordnet werden, die tendenziell allen Menschen einer unpersönlich definierten Gruppe zugänglich ist. Institutionelle Arrangements verhindern, dass sich staatliche Herrschaft verselbständigt oder Gewalt unrechtmäßig eingesetzt wird. Das klingt nach einer Paraphrase einfacher Demokratiebeschreibungen; die Autoren setzen sich aber von Demokratiemodellen, die lediglich nach Wahlen und weiteren formalen Kriterien schauen, deutlich ab, indem sie vorrangig Zugangsfreiheit zu wirtschaftlichen Gewinnchancen und politischen Einflussmöglichkeiten in den Vordergrund stellen. Erst dies garantiere, dass kein Akteur allzu offen nach Renten strebe und dabei andere benachteilige.
Das deutet auch an, was der eigentliche Ausgangspunkt der Autoren ist: die Feststellung, dass Staaten mit einem hohen Wohlstandsniveau sich eben nicht durch hohe Wachstumsraten oder gar durch eine niedrige Staatsquote (wie dies manche vermeintlich wirtschaftsnahe Partei vermutet) auszeichnen, sondern durch langsameres Schrumpfen der Wirtschaft in Krisenzeiten - und das vor allem deshalb, weil ausreichend viele Akteure in die Stabilität der Ordnung vertrauen. Höhere Wachstumsraten erreichen gerade Staaten mit geringer wirtschaftlicher Freiheit und Stabilität - aber sie verlieren das Wachstum auch schneller, und sie etablieren typischerweise eine deutlich niedrigere Staatsquote, da die Staatsquote der angestrebten Rentenabschöpfung zuwiderläuft. Umgekehrt: Die Staatsquote belastet die Wirtschaft nicht, sondern trägt durch die Produktion von öffentlichen Gütern zur Stabilisierung der wirtschaftlichen und der politischen Ordnung bei - und schafft so nachhaltiges Wachstum.
Die Autoren setzen sich deutlich von anderen ökonomischen Theorien der Politik ab, die häufig das Politische von der Ökonomie her denken; sie betonen stattdessen, dass die Entwicklung einer politischen Ordnung mit Zugangsfreiheit einer wirtschaftlichen Ordnung mit Zugangsfreiheit in der Regel vorausgeht, dass ein natürlicher Staat eine solche Wirtschaft mit Zugangsfreiheit im Grunde auch nicht herstellen kann. Dieser Primat des Politischen zieht aber eine entscheidende Frage nach sich: Unter welchen Bedingungen gelingt Gesellschaften eigentlich der Übergang vom natürlichen Staat zum Staat mit Zugangsfreiheit? Diese Frage muss aus der Logik des natürlichen Staates heraus erklärt werden: Eliten, die rent-seeking betreiben, müssen unter bestimmten Voraussetzungen ein Interesse entwickeln, diesen Prozess auf eine unpersönliche Basis zu stellen. Die Autoren lösen diesen Übergang theoretisch und empirisch, indem sie nachweisen, dass dieser Übergang typischerweise der Entwicklung von Rechtssicherheit für die Eliten, der Entpersönlichung von Organisationen im öffentlichen und im privaten Bereich und der konsolidierten Kontrolle des Militärs bedarf. Dazu führen sie die entsprechenden Entwicklungen in Großbritannien, in Frankreich und in den Vereinigten Staaten vor (ähnlich wie sie die Logik natürlicher Staaten zuvor in differenzierter Form am Beispiel der Azteken, der Karolinger, der "mittelalterlichen Kirche" sowie Frankreichs und Englands in der Frühen Neuzeit exemplifiziert haben).
Sowohl die theoretischen Ausführungen (die gewisse Redundanzen aufweisen) als auch die historischen Ausführungen sind für das historische Denken eine Herausforderung; die Autoren sind nicht am Einzelfall interessiert, sondern am Muster, und das macht es nicht leicht, ihren Gedankengängen zu folgen und die eigenen mentalen Vorbehalte abzulegen. Das wird dadurch verstärkt, dass sie keine Theorie im strengen Sinne vorlegen, sondern immer wieder Bündel von notwendigen, nicht einmal hinreichenden Voraussetzungen. Das hätte stärker gemacht werden können. Hinzu kommen andere Einwände, die auch andernorts schon geäußert wurden: die Auswahl der Beispiele (vor allem Mitteleuropa, England, Frankreich, USA; Staaten wie Indien oder China, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden müssten, fehlen), die offene Frage, ob es sich bei natürlichem Staat und Ordnung mit Zugangsfreiheit um Idealtypen oder Realtypen handelt, oder die fehlende Diskussion der (zum Beispiel regionalen) Variation innerhalb eines Staates. Es fehlt auch eine nähere Beschreibung des kausalen Mechanismus, der in den angebbaren Fällen eines tatsächlichen Übergangs vom natürlichen Staat zur Ordnung mit Zugangsfreiheit den Wandel bewirkt (der nach Ansicht der Autoren selbst bei Vorliegen der notwendigen Voraussetzungen nicht zwangsläufig ist) - hier hätte sich die Stärke eines analytischen Narrativs im Sinne Barry Weingasts erweisen können, insbesondere weil dies eine Argumentation auf Mikro-Ebene mit realen Akteuren und realen Entscheidungen erfordert hätte. Das kommt für eine Rational-Choice-basierte Studie deutlich zu kurz.
Dennoch: Das Buch enthält viele produktive Anstöße. Es macht auf Aspekte aufmerksam, die bisher nicht im Vordergrund der historischen Forschung über Herrschaft sowie die Entwicklung und den Wandel von Staatlichkeit standen. Es bietet eine Lösung an, wie man den Staat eben nicht als einheitlichen Akteur konzeptualisieren und ihn dennoch empirisch fruchtbar thematisieren kann. Es löst einige Rätsel der bereits bestehenden Literatur aus dem Bereich der Politischen Ökonomie zum Wechselspiel von Wirtschaftsordnungen und Staatsordnungen und ihrem jeweiligen Wandel. Und: Es argumentiert historisch und diachron. Das alles lohnt die Lektüre. Dass der Mohr Siebeck Verlag damit das dritte große Werk von Douglass C. North ins Deutsche übersetzt hat, ist ein Verdienst; die hölzerne Sprache ist kein Fehler der Übersetzung, sondern dem englischen Original geschuldet.
Anmerkungen:
[1] Douglass Cecil North: Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften; 56.), Tübingen 1988; ders.: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften; 76.), Tübingen 1992; ders.: Understanding the process of economic change (Princeton economic history of the western world), Princeton, NJ [etc] 2005.
[2] Robert H. Bates / Avner Greif / Margaret Levi / Jean-Laurent Rosenthal / Barry R. Weingast: Analytic narratives, Princeton, NJ 1998.
Andreas Frings