Javier Cercas: Anatomie eines Augenblicks. Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2011, 570 S., ISBN 978-3-10-011369-6, EUR 24,95
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Kürzlich hat ein Artikel im "Spiegel" das Thema des gescheiterten Putschversuchs in Madrid durch den Überfall auf das Parlament am 23. Februar 1981 wieder in die Zeitungen gebracht. [1] Danach legt ein Bericht des Botschafters der Bundesrepublik in Spanien, Lothar Lahn, vom 27. März 1981 über sein Gespräch mit König Juan Carlos am Vortag entgegen dem öffentlichen Bild ein eher mehrdeutiges Verhalten des Königs nahe: entschuldigende Worte für die Putschisten, heftige Vorwürfe gegen den am 23. Februar noch amtierenden Ministerpräsidenten Adolfo Suárez. [2] (Suárez hatte bereits seinen Rücktritt erklärt und in der Sitzung sollte sein Nachfolger gewählt werden.) Hätten die Redakteure des "Spiegels" aber zum Beispiel das hier zu besprechende Buch, dessen Original 2009 erschien, gelesen, wären sie davon nicht so überrascht worden. [3]
Der Autor, lange Zeit Literaturprofessor an der Universität Girona, ist weit über Spanien hinaus durch seinen 2001 erschienenen Roman Soldaten von Salamis bekannt geworden. Darin behandelt er das Thema des Bürgerkriegs ausgehend von einem realen Ereignis Anfang 1939 hin zu verschiedenen Erzählebenen, die sich mit dem Reden über den Bürgerkrieg, der Konstruktion der Erinnerung an ihn, im Gegenwartszeitraum des Autors beschäftigen.
Die Bewältigung der spanischen Geschichte durch Erinnerung kann man auch als Ausgangspunkt für Cercas' Überlegungen bei diesem Buch ansehen. Das Bild des Putsches wird geprägt durch ein etwa halbstündiges Video des Überfalls auf das Parlament. Drei Personen haben dabei seine besondere Aufmerksamkeit hervorgerufen, weil sie sich nicht hinter ihren Pulten zu Boden warfen, als die Soldaten in die Luft feuerten: der stellvertretende Ministerpräsident, General Manuel Gutiérrez Mellado, der noch amtierende Ministerpräsident Adolfo Suárez und der KP-Chef Santiago Carrillo. [4] Sie symbolisierten für ihn mit ihrer Haltung gegenüber den Putschisten, dass sie die Hauptpersonen in dem ganzen Prozess der "transición", der Ablösung der Franco-Diktatur durch die Schaffung und Absicherung einer parlamentarischen Monarchie, waren. Auf sie - sowie in der Gegenüberstellung die Hauptakteure des Putsches - ist der Schwerpunkt seines Buchs ausgerichtet. Sie sind - hierbei greift er auf eine bekannte Formulierung von Hans Magnus Enzensberger im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1989 zurück - die "Helden des Rückzugs".
Ursprünglich hatte Cercas einen Roman geplant. Doch als ihm im Laufe der Zeit Zweifel an der Möglichkeit kamen, ein solch reales Ereignis in dessen Formen pressen zu können, entschied er sich für eine nicht-fiktionale Darstellung. Auf der Basis einer Lektüre der sehr umfangreichen Reportagen- und Dokumentationsliteratur und der Befragung zahlreicher Beteiligter entstand so eine faktenbasierte Darstellung, die vor allem um die genannten Akteure kreist.
Ihre biographischen Hintergründe und ihre Motivationen werden entwickelt und wichtige Phasen der Ablösung der Diktatur nach dem Tod Francos bis hin zur krisenhaften Zuspitzung im Jahre 1980 nachgezeichnet: wachsende ökonomische Probleme, Zunahme des Terrorismus nicht nur der ETA, verstärkte Zuversicht der extremen Rechten. Die Regierungspartei machte einen Erosionsprozess durch. Die Idee einer Konzentrationsregierung, eines "weichen Putsches", wurde von einem langjährigen militärischen Berater des Königs lanciert. [5] Doch das Vorgehen der Putschisten, die auf der Parlamentssitzung diesen als neuen Regierungschef (statt des von Suárez vorgeschlagenen Politikers) durchsetzen wollten, scheiterte mit den Schüssen; es drohte das Umschlagen von einem "weichen" in einen "harten" Putsch.
In dieser Situation wurde das Eingreifen des Königs entscheidend, der sich der Loyalität der Armeeführung versicherte und durch eine Fernsehansprache sicherstellte, dass der Putsch nach Zugeständnissen an die Putschisten mit deren Aufgabe endete. Das Scheitern schloss die "transición" ab.
Cercas' Darstellung ist ganz akteurszentriert und nicht-linear. Er arbeitet viel mit Rückblenden und wechselnden Erzählperspektiven auf verschiedene Handlungsebenen und Akteure. Während die erste Hälfte von den "Helden des Rückzugs" bestimmt wird, werden die Protagonisten des Putschversuchs in der zweiten Hälfte hervorgehoben. Eingebettet sind alle diese Passagen in den Ablauf der Ereignisse am 23. Februar 1981. Es ist also nicht eine systematische Geschichte der politischen Zusammenhänge oder gar eine Strukturgeschichte der "transición", wie man sie von einem Historiker zu erwarten hätte. Cercas interessieren die Schlüsselpersonen, allen voran Adolfo Suárez, der vom Karrieristen unter Franco zum entschlossenen Abrissarbeiter der Diktatur wurde, ohne dass es Cercas ganz klar wird, was ihn dabei letztlich antrieb.
Diese Konzentration auf die Handelnden macht das Literarische an der Darstellung deutlich, allerdings mit selbstgesetzten Grenzen. Cercas baut keine fiktionalen Elemente ein, erfindet etwa keine Dialoge bei Gelegenheiten, wo es dafür keine Zeugen gibt, überträgt durch keinen inneren Monolog seine Vermutungen in einen der Akteure oder liefert durch den allwissenden Erzähler keine aus Dokumenten ableitbare Erklärungen. Alles ist bei ihm aus belegbaren Fakten abgeleitet. Eine Reihe von Anmerkungen liefert sogar gelegentliche Nachweise, weist auf offene Fragen hin oder diskutiert unterschiedliche Versionen.
Nicht nur die packende Darstellung eines erfahrenen Autors, unterstrichen durch die ausgezeichnete Übersetzung, macht die Lektüre des Buchs somit auch für einen Historiker interessant, selbst wenn die Fakten bereits in einer umfassenden Bibliothek aufzufinden sind. Doch seine Hervorhebung des subjektiven Faktors lässt eine Seite deutlich werden, die in der Geschichtsschreibung oft zu kurz kommt. Für deutsche Leser ist dies allerdings ein sehr dichtes und vollgepacktes Buch, das möglicherweise in den Einzelheiten auch ermüden kann. Zusätzliche Erläuterungen werden nicht gegeben. Aber für jeden an der spanischen Zeitgeschichte Interessierten - am besten auch mit groben Kenntnissen zur Einordnung des Geschehens - handelt es sich um eine einträgliche Lektüre. Hier hat der Schriftsteller zweifellos etwas dem Historiker voraus. Allerdings ist sein Blickwinkel für ein Verständnis der Interaktion von Menschen und Strukturen dann doch etwas verengt. Um die "transición" umfassend zu verstehen, muss man auf weiterführende historische Arbeiten zurückgreifen.
Anmerkungen:
[1] Der Spiegel, Nr. 6 vom 6. Februar 2012, 93.
[2] Daniela Taschler / Matthias Peter / Judith Michel (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1981. Herausgegeben im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte, München 2012, Dok. 87, 462-465.
[3] Letztes Jahr erklärte Cercas in einem Interview mit der Tageszeitung "Público" vom 20. Februar 2011, entgegen den Bemühungen der Putschisten im späteren Prozess, den König irgendwie als Komplizen darzustellen, habe er den Putsch sicherlich gestoppt. "Jedoch war sein Verhalten vor dem Putsch keineswegs vorbildlich: Er beging Irrtümer, Leichtfertigkeiten, Verantwortungslosigkeiten."
[4] Leider ist genau das nicht auf dem Buchumschlag der deutschen Ausgabe abgebildet, sondern eine Aufnahme kurz davor, als noch eine Reihe von Abgeordneten saß.
[5] Dafür erhielt er sogar Gehör bei Teilen der Sozialisten.
Reiner Tosstorff