Rezension über:

Ulrich Rasche (Hg.): Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven (= Wolfenbütteler Forschungen; Bd. 128), Wiesbaden: Harrassowitz 2011, 527 S., einige s/w-Abb., ISBN 978-3-447-06604-4, EUR 98,00
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Rezension von:
Andreas Becker
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Becker: Rezension von: Ulrich Rasche (Hg.): Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven, Wiesbaden: Harrassowitz 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 4 [15.04.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/04/21093.html


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Ulrich Rasche (Hg.): Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte

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Universitätsgeschichte und Wissenschaftsgeschichte sind nur teilweise kongruent - diese Erkenntnis gewinnt seit einigen Jahren erfreulicherweise an Verbreitung. Jüngere Studien beweisen, dass die frühneuzeitlichen Universitäten noch keineswegs ein beackertes Feld sind. [1] Umso sinnvoller erscheint daher eine Quellenkunde der Institution Universität. Das vorliegende Werk unter Herausgeberschaft von Ulrich Rasche erfüllt diese Aufgabe, es sei vorweggenommen, auf kompetente und dabei verständliche Art und Weise.

Der Band beinhaltet (erweiterte) Beiträge zu einer im Oktober 2007 in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel abgehaltenen Tagung. [2] Rasche, ausgewiesener Experte frühneuzeitlicher Universitätsgeschichte und Mitarbeiter am Göttinger Akademieprojekt zur "Erschließung der Akten des kaiserlichen Reichshofrates", verdeutlicht in der Einleitung die Rolle der deutschen Einheit als belebender Impuls der Universitätsgeschichtsforschung, einerseits durch die Erschließung eines neuen Forschungsfeldes und andererseits durch die nun mögliche Revision "altbundesrepublikanischer Sicht" (15) durch den Zugang zur reichhaltigen Universitätsüberlieferung Ostdeutschlands, wo das Epizentrum der frühneuzeitlichen Bildungslandschaft im Heiligen Römischen Reich mit den Universitäten in Halle, Wittenberg, Leipzig und Jena, auch Erfurt, lag. Dabei erwiesen sich zwei Ergebnisse als besonders ergiebig: Einerseits der practical turn der Wissenschaftsgeschichte, d.h. die stärkere Berücksichtigung der konkreten Arbeits- und Wohnbedingungen rückten in den Fokus. Anderseits entzauberten insbesondere die Studien von Sylvia Paletschek den Humboldt-Mythos. [3] Damit zeigte sich, dass es sich bei der vermeintlich 'neuen Universität' des 19. und 20. Jahrhunderts lediglich um den "modernisierten Typus der protestantischen Universität des 17. und 18. Jahrhunderts" handelte (19). Vor diesem Erkenntnishorizont weitet sich eine "offene Forschungssituation" (20), die alte Deutungen umzuwerten und neue Fragen zu stellen vermag. Zur quellenkritischen Unterstützung der Forschung möchte der umfangreiche Band beitragen.

Er ist in vier Abschnitte geteilt. Im ersten Abschnitt werden die Einrichtungen dargestellt und beschrieben, in denen sich Bestände zur Universitätsgeschichte finden lassen, nämlich in Archiven, Bibliotheken und universitären Sammlungen. Dieter Speck skizziert sehr prägnant die Überlieferungssituation der frühneuzeitlichen Universitäten im Heiligen Römischen Reich und den gegenwärtigen Bestand an Universitätsarchiven (bes. 36-40). Manfred Komorowski und Cornelia Weber zeigen indes, dass wichtige Überlieferungen sich auch in Bibliotheken und Universitätssammlungen finden lassen.

Im zweiten Abschnitt werden "institutionelle Praktiken und deren Überlieferungsbildung" behandelt. Ulrich Rasche legt dar, dass die aus der Policeyforschung gewonnenen Erkenntnisse über Normen und Institutionen auch in der ständischen Korporation Universität überprüft werden müssen und plädiert folgerichtig für eine stärkere Beachtung der eigentlichen Implementierung von Normen und Statuten. Dirk Alvermann zeigt für den Bereich des Rechnungswesens anhand von Geschäftsgängen, welche Quellen entstanden und welche Informationen sie enthalten (bes. 179-196). Gerade Rechnungsunterlagen werden in ihrer Aussagekraft oft unterschätzt. "Ökonomische Verhältnisse, das sollte hier gezeigt werden, durchdringen das Gebilde Universität in allen Bereichen und verbinden diese miteinander" (195). Ähnlich betont Stefan Brüdermann, dass der Sekundärwert von Verhörprotokollen aus der Praxis der akademischen Gerichtsbarkeit darin liegt, dass sie "Zeugnisse [sind] von alltäglichen Konflikten, kulturellen Gewohnheiten und Rollenverhalten, von Kommunikationsformen und sozialer Interaktion" (217). Eine unzureichende quellenkritische Auseinandersetzung führt etwa dazu, dass frühere Stereotypen, etwa vom "raufboldischen Studenten", fortgeschrieben, die tieferen Gründe hierfür jedoch selten problematisiert werden.

Während die "klassische Archivalienkunde", etwa das Standardwerk von Beck und Henning bloß zwischen den Formen, etwa Urkunde, Amtsbuch, Akte unterscheidet [4], zeigt die im Band vorgenommene Unterteilung in Funktionsbereiche bzw. institutionelle Praktiken die gattungsübergreifende Überlieferung, die sich über mehrere Archivalientypen erstrecken kann. Hingegen verdeutlicht der dritte Abschnitt, der konkret definierbare Quellen untersucht, dass es sich hier um Sonderformen klassischer Archivalientypen handelt, etwa Rechnungsbücher oder die Matrikel als ursprüngliche Amtsbücher. Nach Matthias Asche und Susanne Häcker offenbaren gerade die Matrikel die vormoderne Universität als "Knotenpunkt sozialer Beziehungen und Personengemeinschaften, mithin als 'social community' begriffen, in welcher altständische Regeln von Patronage und Klientelwesen wirksam waren" (257). Eine systematische Auswertung dieser wertvollen Quellengruppe ermöglicht es auch territoriale, regionale und überregionale Bezugssysteme, etwa für ideengeschichtliche Rezeptionswege, nutzbar zu machen.

Der letzte Abschnitt ist betitelt "Quellen zur Außen- und Selbstwahrnehmung": Die dort benannten Quellen wie Gelehrtenkorrespondenzen (Detlef Döring), Deutschsprachige Gelehrte Journale und Zeitungen (Thomas Habel), Stammbücher (Werner Wilhelm Schnabel) oder Bildliche Darstellungen (Barbara Krug-Richter) liefern wichtige Informationen zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, sind aber im Regelfall nicht durch die Institution Universität geschaffen worden, sondern entstanden als Folge der Tätigkeit und des Wirkens von Professoren und Studierenden. Es handelt sich hier mehrheitlich um Quellen, die sich dezidiert an eine mehr oder weniger breite Öffentlichkeit richteten.

Die Beiträge im Band sind von ausgewiesenen Kennern der Materie verfasst worden. Als sehr gelungen erweist sich dabei die in allen Beiträgen umgesetzte Vorgabe einheitlicher Präsentation: Jeder der insgesamt sehr qualitätsvollen Beiträge zeigt Definitionen und/oder Typologien der jeweiligen Quellengattung(en), den historischen Hintergrund ihrer Genese sowie Forschungsstand und Auswertungsmöglichkeiten, die allerdings manchmal den Charakter von Handlungsanweisungen annehmen. Dagegen nehmen sich die kleineren Schwächen des Bandes gering aus: So konnten leider nicht alle Tagungsbeiträge aufgenommen werden, es fehlt beispielsweise Bernhard Ebneths Beitrag zum bislang vergleichsweise wenig beachteten Thema Stipendienwesen. Ferner wäre es sinnvoll gewesen, alle elektronischen Quellenverzeichnisse gesondert aufzuführen oder ihnen gar einen eigenen editionskritischen Beitrag zu widmen. Dies hätte den Vorteil geboten, entsprechende Angebote stärker präsent zu machen (etwa den Systematischen Index zu deutschsprachigen Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts auf Seite 387 Anm. 10) und die zahlreichen Internetverweise nochmals auf Aktualität zu überprüfen. So erweist sich der Link auf Seite 65 Anm. 43 als veraltet. [5]

Dieser Band ist einer, der es in sich hat: Er erfüllt sein selbst gestecktes Ziel Typen, Bestände und Forschungsperspektiven zu beschreiben und zu einer "Entfaltung einer die ganze Überlieferung einbeziehenden dynamischen Basis für weiterführende Forschungen" beizutragen (11), vollauf. Der Band sollte von allen, die sich mit frühneuzeitlicher Universitätsgeschichte beschäftigen, zur Quellenkritik und als Anregung zur Auswertung unberücksichtigter Bestände herangezogen werden: Ulrich Rasches Werk hat hohen Gebrauchswert. Insgesamt wird deutlich, dass noch wahre Schätze in der Universitätsgeschichte zu heben und von dort auch Impulse für andere Bereiche der Geschichtswissenschaften zu erwarten sind. Um das durchzuführen, ist von Seiten der Forschenden ein umfassender Zugriff auf Archive, Bibliotheken und Museen notwendig: Archiv-, Bibliotheks- und Sammlungsgut werden in allen drei Einrichtungen dokumentiert. Umgekehrt müssen diese Einrichtungen dafür sorgen, dass ihre Bestände auch benutz- und vor allem recherchierbar sind.


Anmerkungen:

[1] Beispielsweise Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Repräsentation und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006.

[2] Tagungsbericht von Volker Bauer unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1812.

[3] Sylvia Paletschek: Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (= Contubernium; 53), Stuttgart 2001.

[4] Friedrich Beck / Eckart Henning (Hgg.): Die archivalischen Quellen, 4. Aufl., Köln u.a. 2004.

[5] Der aktualisierte Link lautet http://www.rg.mpg.de.

Andreas Becker