Nina Gülicher: Inszenierte Skulptur. Auguste Rodin, Medardo Rosso, Constantin Brancusi, München: Verlag Silke Schreiber 2011, 264 S., ISBN 978-3-88960-114-8, EUR 32,00
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Nina Gülichers Buch über die Inszenierung von Skulptur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, das auf der leicht geänderten Fassung ihrer Dissertation basiert, zählt zweifelsohne zu den intelligentesten und spannendsten kunsthistorischen Neuerscheinungen des letzten Jahres. Mit ihrer These, dass auch künstlerisch 'klassisch' aufgefasste Skulpturen dezidierte Anforderungen an ihre räumliche Inszenierung stellen, verlässt sie die ausgetretenen Pfade der gängigen Theorie, die bislang polarisierend zwischen räumlich autonomer und räumlich abhängiger Skulptur (Installationen, Performances) unterschied. So untersucht die Autorin erstmals 'systematisch und historisch [...] sämtliche inszenatorische Mittel, die Bildhauer in den Jahrzehnten um 1900 für sich nutzten' (13), wobei sie die 'inszenatorischen Mittel im Sinne einer Erweiterung der bildhauerischen Mittel' (11) begreift. Als Musterbeispiele wählt sie die Meistertrias Auguste Rodin (1840-1917), Medardo Rosso (1858-1928) und Constantin Brancusi (1876-1957), die in den Jahrzehnten um 1900 maßgeblich zur Modernisierung der Skulptur beigetragen haben: Sie zählten nämlich 'zu den ersten Bildhauern, die sich den Forderungen des Salons und offizieller Auftraggeber nach der idealisierenden Nachahmung der menschlichen Gestalt nicht beugten und eigene konzeptionelle Prinzipien durchsetzten' (20).
Ihrem Anspruch nach geht die Publikation über eine wissenschaftliche Denksportaufgabe weit hinaus, indem sie Fragen thematisiert, die auch 2012 für die kuratorische Praxis höchst relevant sind: Wie sind Skulpturen ihrer Rezeptionsästhetik zufolge angemessen zu präsentieren (92ff.)? Erfordern sie spezifische Sockel, und falls ja: wie indizieren sie dies (85ff., 110ff., 133ff.)? Welche Anforderungen stellen die bildhauerischen Konzepte an die Ausstattung und Beleuchtung der Ausstellungsräume (98ff., 119ff., 150ff.)? Basiert die ideale Szenografie auf einer solitären Präsentation der Werke, oder bedingt sie auch die Bildung von Werkgruppen (149ff.)? Und welche Rolle spielt der Standpunkt des Betrachters (111ff.)?
Gerahmt von einer 'Einleitung' mit Forschungsbericht und Arbeitsvorhaben sowie einem Schlusskapitel über die 'Verschiebung von plastischen und inszenatorischen Mitteln' gliedert sich die Untersuchung der bildhauerischen Ästhetik von Rodin, Rosso und Brancusi in drei Hauptkapitel. Das erste widmet sich den skulptur- und kunsttheoretischen Hintergründen, welche die mise en scène - die im Sinne von 'Inszenierung' als Leitbegriff gewählt wird (13) - zum festen Bestandteil moderner bildhauerischer Konzepte erklärt (18). Letztere rekonstruiert die Autorin durch eine akribische Analyse der zentralen Begriffe, mit denen die Bildhauer selbst ihre künstlerischen Intentionen beschrieben haben. [1] Hier wird deren Originalität evident:
Während Rodins vielansichtig konzipierte Skulpturen erst bei ihrer Umrundung die volle Wirkung ihrer - zusätzlich Bewegung suggerierenden - Modellierung entfalten (30-36), erscheint das figürliche Motiv in Rossos reliefartig aufgebauten Skulpturen erst bei einer weitgehenden Einschränkung des Blickwinkels evident (42ff.). Brancusi schließlich, der die Formen seiner Skulpturen als 'kleinsten Nenner einer übergreifenden kosmischen Ordnung' begriff (49), entwickelte mit der ideellen Verzahnung von Volumen und Raum das umfassendste bildhauerische Konzept.
Im zweiten Kapitel analysiert die Autorin die Bedingungen und die Umsetzung der inszenatorischen Vorgehensweise von Rodin, Rosso und Brancusi im Ausstellungsraum (21). Die Voraussetzungen hierfür leitet sie zunächst aus den im Rahmen größerer Gruppenausstellungen entwickelten malerischen Strategien der mise en scène ab, wie beispielsweise aus den ab Mitte der 1870er-Jahre organisierten Impressionisten-Ausstellungen (63), um anschließend einzelne Ausstellungen zu untersuchen, die für die Bildhauer im Hinblick auf ihr inszenatorisches Konzept und ihre Positionierung im Kunstbetrieb von entscheidender Bedeutung waren (73ff.). Hier wird deutlich, dass sich der Akzent zugunsten der mise en scène nicht nur von Gruppen- zu Einzelausstellungen verschob (73ff., 103ff., 123ff.), sondern auch, dass die Bildhauer zum Aufbau ihrer Ausstellungen möglichst selbst anreisten, um ihre Werke eigenhändig zu positionieren (77, 110, 157) - zumal ihr 'Einfluss auf die mise en scène der Skulpturen im Ausstellungsraum als Indikator für ihre 'wachsende Machstellung' gelten konnte (101).
In einigen Fällen übertrugen sie die mise en scène ihrer Werke auch engen Vertrauenspersonen: Marcel Duchamp organisierte die ersten Ausstellungen von Brancusi in den USA (128ff.). Es erscheint nur konsequent, dass die inszenatorischen Strategien 'in allen drei Fällen' nach Nina Gülicher zuletzt 'in die Suche nach einem dauerhaften Ausstellungsort' für die Werke mündeten (159).
Da Rodins, Rossos und Brancusis künstlerische Praxis auch das Medium der Fotografie einschloss, fokussiert das dritte Kapitel die mise en scène der Skulptur in der Fotografie und fragt, welche Bedeutung die - technisch innovative - fotografische Sicht- und Verfahrensweise für die bildhauerische Praxis gewinnen konnte (24). Dabei gelingen der Autorin erneut maßgebliche Entdeckungen: 'Entgegen der von einigen Forschern vertretenen These, dass die fotografischen Reproduktionen einen künstlerischen Status erreichten, der sie mit dem fotografierten Werk auf eine Stufe hob, werden sie hier primär als Mittel verstanden, das die Bildhauer zur Präzisierung und Verarbeitung ihrer künstlerischen Konzepte nutzten' (24). Dies erscheint umso plausibler, als Reproduktionen seit je her zur Verbreitung künstlerischer Ideen und zur Positionsbestimmung im Kunstbetrieb Verwendung finden.
Die Stärken der Publikation liegen in der nicht nur für Museumsleute hoch spannenden Themenwahl, der durchgängig schlüssigen Argumentation und der großzügigen Veröffentlichung von teils schwer zugänglichem Archivmaterial. Die kleinen Schwächen, wie die Abbildungsverweise ohne Seitenzahlen und der Druck in Spalten, deren Lesbarkeit die straffe Bindung erschwert, sind angesichts der inhaltlichen Relevanz zu vernachlässigen. Die Lektüre dieses Buches, das nicht nur eine innovative Diskussion über die Präsentationsformen von Ausstellungen eröffnet, sondern auch einen frischen Zugang zu zeitgenössischen Inszenierungskonzepten erlaubt, sei jedem Ausstellungskurator ans Herz gelegt. Es wird sich zweifelsohne als Standardwerk etablieren.
Anmerkung:
[1] Nach Nina Gülicher sind das für das bildhauerische Konzept von Rodin 'caractère', 'émotion', 'mouvement' und 'modelé' (26-36), für dasjenige von Rosso 'dominante', 'impression', 'point déterminé' und 'tonalité' (36-47), und für dasjenige von Brancusi 'essence', 'choc', 'matérial' und 'forme' (47-59).
Marion Bornscheuer