Rezension über:

Samuel Moyn: The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge, MA / London: The Belknap Press of Harvard University Press 2010, 345 S., ISBN 978-0-674-04872-0, GBP 20,95
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Rezension von:
Fabian Klose
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Fabian Klose: Rezension von: Samuel Moyn: The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge, MA / London: The Belknap Press of Harvard University Press 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 5 [15.05.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/05/21075.html


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Samuel Moyn: The Last Utopia

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Die Thematik der Menschenrechte - lange Zeit eine ausschließliche Domäne der Politik- und Rechtswissenschaften - hat sich mittlerweile auch in der Geschichtswissenschaft etabliert. Das Thema boomt. Vor allem Fragen nach den historischen Ursprüngen individueller Grundrechte haben Historiker beschäftigt und dazu angeregt, Kontinuitätslinien von der Antike über die Aufklärung, die Amerikanische und Französische Revolution bis hin zum heutigen internationalen Menschenrechtsregime zu ziehen. Samuel Moyn, Professor für europäische Ideengeschichte an der Columbia University in New York, bricht in seinem Buch The Last Utopia. Human Rights in History fundamental mit den bisherigen Erzählsträngen und legt eine alternative Interpretation der Entwicklung der Menschenrechte vor. Demnach verfügten die heutigen Menschenrechte über keine lange Vorgeschichte, sondern seien ein relativ junges Phänomen, das seinen Durchbruch erst Mitte der 1970er Jahre geschafft habe, "seemingly from nowhere." (3). Historisch betrachtet entwickelten sich die Menschenrechte, so die zentrale These Moyns, zu einem Zeitpunkt zur letzten bestehenden Utopie, als andere utopische Modelle wie der Sozialismus und der Antikolonialismus implodierten (4).

In insgesamt fünf Kapiteln, die einer chronologischen und thematischen Grundordnung folgen, unterzieht der Autor die bisherigen Narrativen einer Belastungsprobe und versucht seine eigenen Thesen als Gegenmodell in Stellung zu bringen. Gleich zu Beginn erteilt er der klassischen Interpretation von einer langen Vorgeschichte der Menschenrechte mit Rückgriffen auf die griechische und römische Philosophie, einer Einbeziehung der Weltreligionen sowie Naturrechtsdebatten der Aufklärung eine klare Absage. Auch die zentralen Dokumente der atlantischen Revolutionen in Amerika und Frankreich, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, werden nicht als Vorläufer akzeptiert. Moyn begründet dies damit, dass im Gegensatz zu den heutigen universellen "human rights", die in den Revolutionen verkündeten "rights of man" immer in direkter Abhängigkeit zur jeweiligen Staatsangehörigkeit standen (12).

Im nächsten Schritt wendet sich der Autor den Debatten der 1940er Jahre zu, als Menschenrechte als Element der alliierten Kriegspropaganda im Kampf gegen Hitlers totalitäre Ordnung auftauchten und in Form der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 durch die Vereinten Nationen in der Nachkriegsordnung verankert wurden. Moyn sieht allerdings auch darin keine entscheidende Zäsur, sondern charakterisiert diese Entwicklung als "Totgeburt". Die UN-Menschenrechtserklärung sei genauso wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) lediglich ein Nebenprodukt der politischen Debatten der Nachkriegszeit gewesen, und zudem habe jeder politische Wille zur praktischen Umsetzung dieser neuen Ideale gefehlt (46). Die Sprache der Menschenrechte sei letztlich nur von konservativen Kräften in Westeuropa für ihren antikommunistischen Kreuzzug gegen die Sowjetunion instrumentalisiert und entsprechend in den Auseinandersetzungen des Kalten Krieges aufgerieben worden. Moyn verweist zu Recht auf das Ausbleiben einer elementaren Weiterentwicklung des Menschenrechtsregimes im Schatten der Ost-West-Konfrontation, allerdings scheint der Autor in diesem Zusammenhang die Bedeutung der unmittelbaren Nachkriegszeit zu unterschätzen. Grundlegende Dokumente wie die UN-Genozidkonvention, die UN-Menschenrechtserklärung, die EMRK und die Genfer Konventionen von 1949 wurden aber genau in diesem Moment verfasst und bildeten den zentralen Referenzpunkt für die spätere Weiterentwicklung des Menschrechtsregimes, das daher in den 1970er Jahren nicht - wie von Moyn behauptet - plötzlich aus dem "Nirgendwo" entstand.

Moyn spricht dem Antikolonialismus nach 1945 die Bedeutung als Menschenrechtsbewegung im klassischen Sinn ab. Die Vertreter hätten sich bei ihrer Agitation nicht so sehr auf universelle Grundrechte, sondern in erster Linie auf das Recht auf Selbstbestimmung bezogen und diesem entsprechend alles untergeordnet (96). An dieser Stelle gilt es einzuwenden, dass weniger eine Unterordnung als vielmehr eine Verbindung von beiden Forderungen stattfand. Wie Roland Burke in seinem Buch "Decolonization and the Evolution of International Human Rights" [1] überzeugend zeigt, nahm die antikoloniale Bewegung im Menschenrechtsdiskurs der Vereinten Nationen eine äußerst aktive Rolle ein. Zudem benutzten antikoloniale Nationalbewegungen wie zum Beispiel die algerische Front de Liberation Nationale (FLN) zum ersten Mal überhaupt das Instrument der Massenpetition an die UN-Menschenrechtskommission, um auf massive Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen - eine erfolgreiche Strategie, der spätere Menschenrechtsbewegungen bei ihren Kampagnen folgten.

Den entscheidenden Durchbruch der Menschenrechtsidee sieht Moyn erst Mitte der 1970er Jahre gekommen, als soziale Bewegungen die Sprache von universellen Grundrechten für sich entdeckten, und es zu einer regelrechten "explosion of human rights activism" (121) kam. Als Hauptgrund führt er an: "The death of other utopian visions and their transfiguration into a human rights agenda provides the most powerful way to do so." (122). Anschaulich schildert der Autor die zentrale Bedeutung von Amnesty International bei dieser Menschenrechtsrevolution, ohne dabei die Rolle der Dissidentenbewegung in Osteuropa, den Helsinki-Prozess 1975 und die liberale Wende der US-Außenpolitik unter Jimmy Carter zu vernachlässigen. Er verknüpft diese verschiedenen Aspekte mit großem Sachverstand zu einem überzeugenden Argument. Zur Untermauerung seiner These datiert Moyn die verstärkte Auseinandersetzung mit und das Interesse von Völkerrechtlern an der Menschenrechtsthematik ebenfalls in dieses Jahrzehnt. Überraschenderweise fehlt dabei allerdings der erwartete Bezug auf das humanitäre Völkerrecht. Die Genfer Konventionen von 1949, die seit der Nachkriegszeit Eingang in völkerrechtliche Debatten fanden, werden nur einmal kurz erwähnt und zwar mit dem Zusatz, dass "human rights" darin nicht explizit erwähnt werden (177). Aber gerade der Schutz von Leben in Ausnahmesituationen wie bewaffneten Konflikten und Kriegen berührt das elementarste aller Grundrechte, nämlich die körperlichen Unversehrtheit. Der im Buch verwendete Menschenrechtsbegriff ist daher zu eng gefasst, denn die Entwicklung der Menschenrechte vollzog sich auf verschiedenste Weise, und nicht ausschließlich unter dem Banner von "human rights".

Auch wenn man nicht mit allen Thesen des Buches vollständig übereinstimmen will, hat Moyn einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Menschenrechte geliefert. Sein Verdienst liegt darin, alte Zäsuren aufzubrechen, bisherige Narrative grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, dadurch Widerspruch zu provozieren, die Debatten neu anzuregen und vor allem mit seinen eigenen Thesen neue Perspektiven für zukünftige Arbeiten zu eröffnen. Nicht nur aus diesem Grund ist das Buch jedem zu empfehlen, der sich mit der Evolution der Menschenrechtsidee auseinandersetzen will.


Anmerkung:

[1] Roland Burke: Decolonization and the Evolution of International Human Rights, Philadelphia 2010.

Fabian Klose