Hartmut Leppin: Justinian. Das christliche Experiment, Stuttgart: Klett-Cotta 2011, 448 S., 35 Farbabb., 4 Kt., ISBN 978-3-608-94291-0, EUR 27,95
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Mit Justinian legt Hartmut Leppin die zweite Biographie eines römischen Kaisers vor. Ziel ist eine Synthese auf Basis der modernen Forschung, um die Erträge der verschiedenen Disziplinen auch den Nicht-Spezialisten zugänglich zu machen. Das ist durchweg gelungen. Der Fließtext ist anregend und flüssig geschrieben, die Endnoten liefern vertiefende Belege auf antike Texte und moderne Forschungsliteratur. Für die Argumentation werden mit viel Sach- und Kunstverstand Bauwerke, Konsulardiptychen, Mosaiken, Münzen und Inschriften herangezogen, die ein schöner Tafelteil in der Buchmitte versammelt.
Der Schwerpunkt liegt laut Vorwort auf den religiösen Entwicklungen der Zeit und der scheinbaren Modernität, was der Untertitel "Das christliche Experiment" spiegelt. Die Modernität wird an Justinians unbedingtem Willen zur Gestaltung und zur systematischen Verbesserung festgemacht (171ff.). Seine Herrschaft, die auf eine umfassende christliche Durchdringung der Gesellschaft und ihres Rechts gezielt habe, erinnere an politische Experimente späterer Epochen und mute totalitär an (351). Natürlich steht Justinian in einer Reihe von christlichen Kaisern, die dem Christentum eine wachsende Bedeutung beimaßen. Für viele ist das Christentum seit Konstantin oder spätestens seit Theodosius I. "Staatsreligion". Leppin hat sich in seiner Biographie von 2003 gegen diesen Begriff gewandt und ein anderes Bild von Theodosius gezeichnet, der kein klares Konzept zur Förderung der Christianisierung verfolgt habe (232). Insofern kann er das christliche Experiment im engeren Sinne mit Justinian beginnen lassen.
Die Einleitung bringt Methodisches und stellt die wichtigsten zeitgenössischen Autoren vor (Prokop, Johannes Lydos, Johannes Malalas und Johannes von Ephesos). In sechs chronologischen Kapiteln werden Leben und Wirken Justinians von 518, dem Herrschaftsantritt seines Onkels Justin, bis zu seinem Tod im Jahr 565 entworfen. Das letzte Kapitel sichtet die Ergebnisse und liefert ein Fazit, das in einen Überblick über die Geschichte des Justinianbilds gebettet ist.
Eingangs erteilt Leppin der Hoffnung, eine Biographie könne Einsicht in das Wesen eines Akteurs vermitteln, eine Absage (25f.). Man kenne die Handlungen, aber nicht die Motive. Einige Fragen beispielsweise nach der Psychologie des Kaisers seien angesichts der Quellenlage verboten. Überraschenderweise werden solchen Frage aber wiederholt gestellt: zum Beispiel nach Justinians Motiven, Theodora zu heiraten (81), oder seiner Wahrnehmung der Katastrophen: "Hatten ihn nicht die Erfolge der ersten Jahre in seinem Handeln bestätigt? Wollte Gott ihn nun prüfen?" (241). Auch wenn die Antworten zumeist offengelassen werden, sind diese Fragen suggestiv. Gegen Ende verdichten sich die Vermutungen: Vieles spreche dafür, dass Justinian an sich zweifelte (330).
Der Gedankengang wird eng an den antiken Quellen entwickelt. Auf darstellende folgen analysierende Absätze, in denen die Texte auf literarische Topoi und Voreingenommenheit abgeklopft werden, um zu belastbaren Aussagen zu kommen. Diese Vorgehensweise schafft Transparenz, die es dem Leser im Zweifelsfall sogar erlaubt, andere Schlüsse zu ziehen. So wird mancher bei der Benutzung von Heiligenviten und des Zeremonienbuchs des Konstantin Porphyrogennetos die geäußerten Bedenken zum Quellenwert stärker gewichten.
Leppin ist aufmerksam für die Fallstricke der Terminologie. Antike und moderne Gruppenbezeichnungen transportieren ja oft Vorstellungen von Einheit und Gemeinsamkeit. So entscheidet er sich für Miaphysiten statt Monophysiten (52) und Sklawenen statt Slawen (255). Trotz Bedenken wird weiterhin von Vandalen gesprochen (150). Den Transformationsprozessen, denen sich der frühere weströmische Reichsteil ausgesetzt sah, wird Rechnung getragen, indem von "romanischer" Bevölkerung gesprochen wird.
Das Leben und Schaffen Justinians zerfällt in Leppins Darstellung - grob gesagt - in zwei Hälften, die einerseits von Erfolg und andererseits von Rückschlägen geprägt sind. Auf glanzvolle Siege folgten seit 540 militärische Niederlagen und verheerende Naturkatastrophen, wie es im Klappentext heißt. Für diese Sichtweise sind die Arbeiten von Mischa Meier grundlegend, dessen Monographie "Das andere Zeitalter Justinians" laut Leppin einen Neuansatz bildete (350). Anders als Meier will Leppin den Bruch weniger stark verstanden wissen unter Verweis auf eine größere Kontinuität bei den Reformprojekten (241). Trotzdem, bis 536 sei der Eindruck überragend (203); was Justinian nach 542 an Erfolgen errang, habe nicht den Eindruck an Düsternis aufzuhellen vermocht (251). Die Katastrophen seien nicht nur von den Zeitgenossen als Zeichen göttlichen Zorns gegenüber dem Kaiser gedeutet, sondern auch von diesem selbst so verstanden worden (250, 286, 346). Als Reaktion habe Justinian immer verzweifeltere Anläufe unternommen, Reich und Kirche zu stabilisieren, und sein Leben am Leitbild des Heiligen Mannes orientiert. Im Fazit ist die Rede von grandiosem Scheitern. Wenig, oft das Gegenteil des Erstrebten habe Justinian erreicht. Die Verfolgung der Miaphysiten habe die Bildung der so gennannten Jakobitischen oder syrisch-orthodoxen Kirche befördert (69, 294). Seinen Nachfolgern habe er ein ausgezehrtes und überdehntes Reich hinterlassen, ein gefundenes Fressen für die Potenzen der Zukunft (320, 345). Für Leppin sind die Rückeroberungen in Italien, Spanien und Afrika Scheinsiege. Die Zeittafel endet folglich nicht mit Justinians Tod, sondern mit dem Einfall der Langobarden in Italien und mit der Niederlage Roms gegen die Araber am Yarmuk. Die anhaltenden militärischen Erfolge bleiben indessen nicht unerwähnt und Leppin fragt zu Recht, ob irgendein römischer Kaiser die Probleme auf dem Balkan hätte in den Griff bekommen können (344). Ob die Jakobitische Kirche unter Justinian entstand oder sich verfestigte, lässt Leppin im Fazit offen. Es fragt sich, ob so gut wie jede Naturkatastrophe oder Niederlage eines Generals auf den Kaiser zurückfallen musste. Von den angeführten Zeugen wird das nur von Prokop so gesehen (206ff.). Das Kapitel "Ende in Isolation" umfasst mit zwölf Jahren den längsten Zeitabschnitt. Vielleicht liegt es auch an der von Leppin betonten Quellenarmut und dem fast alleinigen Zeugnis des Malalas, dass die Katastrophen gedrängter wirken.
Leppins Sicht bricht mit modernen Deutungen, die Justinian einseitig für die Wiederherstellung des Imperium Romanum oder die Kodifikation des römischen Rechts rühmen. Dem Meilenstein, den das corpus iuris civilis für zukünftige Generationen bedeutet, wird dessen mangelnde Umsetzung zumal in den Provinzen gegenübergestellt. Die Argumentation ist durchweg schlüssig und nachvollziehbar. Das Material wird ausgebreitet, Probleme werden nicht ausgeblendet. Der Leser wird so in die Lage versetzt, sich ein fundiertes eigenes Urteil zu bilden. Leppin gelingt es nicht nur, die Leserschaft jenseits der Forschung anzusprechen, sondern auch dem Experten zahlreiche Anregungen zu liefern.
Fabian Schulz