Ralph Kaschka: Auf dem falschen Gleis. Infrastrukturpolitik und -entwicklung der DDR am Beispiel der Deutschen Reichsbahn 1949-1989 (= Deutsches Museum. Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung; Bd. 13), Frankfurt/M.: Campus 2011, 374 S., ISBN 978-3-593-39488-6, EUR 39,90
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Wer in der DDR mit der Deutschen Reichsbahn reiste, dem konnten deren Probleme kaum verborgen bleiben. Viele Bahnhöfe befanden sich in einem beklagenswerten Zustand, die Reisewagen waren veraltet, nur wenige Hauptstrecken elektrifiziert, es gab unzählige "Langsamfahrstrecken" und der Service war schlecht.
Trotzdem funktionierte die Bahn. Ihre mehr als 255 000 Mitarbeiter (Stand 1989) mühten sich redlich, trotz veralteter Technik, vergleichsweise schlechter Bezahlung und eines sinkenden Sozialprestiges die Fahrpläne einzuhalten und das wachsende Aufkommen im Personen- und Güterverkehr zu bewältigen. Den Ursachen für den zunehmenden Verschleiß der technischen Infrastruktur der Deutschen Reichsbahn geht Ralph Kaschka in seiner Dresdener Dissertation nach.
Zu Recht verweist Kaschka einleitend auf den unzureichenden Forschungsstand zur Infrastrukturpolitik der SED. Zwar gab es in Dresden an der Hochschule für Verkehrswesen "Friedrich List" seit 1952 einen Lehrstuhl für Wirtschafts-, Technik- und Verkehrsgeschichte, doch blieben die dort erarbeiteten Darstellungen, soweit sie die Infrastrukturpolitik in der DDR betrafen, an die Deutungsmuster der Staatspartei gebunden. Nach der friedlichen Revolution von 1989 konzentrierten sich die Forschungen auf die Nachkriegsverluste durch die sowjetischen Demontagen und der Zustand der Bahnanlagen in den letzten Jahren der DDR. Lediglich in einer Studie von Christopher Kopper wurde ein Überblick zur Geschichte der Deutschen Reichsbahn gegeben. [1]
Es ist das große Verdienst von Kaschka, als Erster eine gründliche und quellengesättigte Gesamtdarstellung der Infrastrukturpolitik der SED am Beispiel der Deutschen Reichsbahn vorgelegt zu haben. Er verortet zunächst die Stellung der Bahn im Verkehrswesen der DDR und referiert dann die Nachkriegsverluste, wobei im Wesentlichen die Forschungsergebnisse von Rüdiger Kühr bestätigt werden [2]. Leider beschränkt er sich an dieser Stelle, wie auch in den anderen Kapiteln, auf die technische Infrastruktur (Gleisanlagen, Oberbau, Brücken, Sicherungs- und Fernmeldeanlagen). Wenigstens punktuell wäre eine Ausweitung des Themas samt Analyse des Bestandes und der Qualität des rollenden Materials (Lokomotiven, Waggons) wünschenswert gewesen, denn erst dadurch wäre es möglich gewesen, die volkswirtschaftlichen Dimensionen der Transportprobleme in vollem Umfang zu erfassen.
Ein Hauptkapitel ist dem langen Krisenjahrzehnt von 1949 bis 1962 gewidmet. Kaschka verweist auf den niedrigen Stellenwert, den die Eisenbahn in dieser Zeit und auch später in der Wirtschaftspolitik der SED einnahm. Mit den zur Verfügung gestellten viel zu geringen Mitteln konnte die Bahn keine grundlegende Erneuerung ihrer Infrastruktur vornehmen, sondern bewegte sich permanent an der Belastungsgrenze. Lediglich punktuelle Rekonstruktionen, wie im Fall der Sicherungs- und Fernmeldeanlagen, und einzelne Streckenerweiterungen, so beim Bau des Berliner Außenrings und der Strecke zum neuen Überseehafen Rostock, waren möglich.
Zwischen 1963 und 1966 erhielt die Reichsbahn mehr Mittel für die Modernisierung der Gleisanlagen und die Erneuerung des Oberbaus, doch reichten diese Impulse bei weitem nicht aus. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre sackten die Investitionen für den Gleisbau dann schon wieder ab. Insgesamt lag die Investitionsquote bei der Reichsbahn in den 1960er Jahren noch unter der Quote der vorangegangenen Dekade. Der Autor kommt daher zum Schluss, dass die Deutsche Reichsbahn in den Jahren der Wirtschaftsreformen kaum Effizienzgewinne erzielen konnte. Die Wirtschaftspolitik der SED blieb auf die Industrie fixiert. Für die 1970er Jahre fällt sein Fazit ähnlich aus. Zwar wurde der mehrgleisige Streckenausbau begonnen und Maßnahmen zur Erneuerung der veralteten Sicherungs- und Fernmeldeanlagen eingeleitet, doch wurde die Bahn auch weiterhin wie ein ungeliebtes Stiefkind behandelt. Dies zeigte sich unter anderem daran, dass der ab Dezember 1970 neue Minister und Generaldirektor der Reichsbahn, Otto Arndt, wie auch schon sein Vorgänger, Erwin Kramer, kein Mitglied oder Kandidat des Politbüros der SED wurde.
Diskussionswürdig und stellenweise überzogen sind die wenn auch nur knappen Bezüge des Autors zur allgemeinen Wirtschaftsentwicklung der DDR. Die unbestreitbar überwiegend negative Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur wird von ihm zur Kritik an den Wertungen Jörg Roeslers zu positiven gesamtwirtschaftlichen Aspekten während der Reformjahre wie auch an der Einschätzung André Steiners, dass es Anfang der 1970er Jahre eine Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation gegeben hätte, genutzt. Kaschka ist insoweit zuzustimmen, als dass es in der Honecker-Zeit keine visionären Sinnstiftungen für die Reichsbahn mehr gab und dass in künftigen Gesamtdarstellungen die Situation des Verkehrswesens eine stärkere Beachtung finden sollte, was die Bilanz weiter eintrüben dürfte. Allerdings bleibt es unzulässig, aus der Entwicklung eines einzelnen Bereichs der Volkswirtschaft zu weitreichende Schlüsse auf die Gesamtentwicklung zu ziehen.
Überzeugend werden dagegen in den letzten Kapiteln die zusätzlichen Belastungen der Bahn durch die energiepolitische Wende ("zurück zur Kohle") seit 1980 dargestellt. Die Erhöhung der Erdölpreise hatte für die Bahn zweischneidige Wirkungen. Zum einem wurde durch die Verlagerung von Transporten von der Straße auf die Schiene die ohnehin schon übermäßig beanspruchte Infrastruktur der Deutschen Reichsbahn einem noch größeren Verschleiß ausgesetzt, zum anderen wurde die Umstellung auf den elektrischen Bahnbetrieb endlich fortgesetzt. Die Elektrifizierung von rund 24 Prozent aller Bahnstrecken und die Anschaffung neuer elektrischer Triebfahrzeuge wird vom Autor alles in allem als Erfolg bewertet.
Ein eigenständiges Kapitel ist der Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Bereich der Bahn gewidmet. Kaschka kommt zu dem Schluss, dass die von ihm als Lowtech charakterisierte Eisenbahninfrastruktur für das MfS keinen besonderen Stellenwert besaß. Das MfS unternahm in diesem Bereich zu keinem Zeitpunkt selbständige Aktivitäten zur Steuerung der Abläufe.
Das Buch ist gründlich lektoriert und mit allen nötigen wissenschaftlichen Apparaten versehen. Ungewollt komisch wirkt lediglich, dass sich der Autor für den Abdruck von Abbildungen entschuldigt, auf denen nichts zu erkennen ist. Einfacher wäre es gewesen diese wegzulassen. Obwohl die Geschichte der Verkehrsinfrastrukturentwicklung in der DDR eher ein abschreckendes Beispiel ist, plädiert Kaschka dafür, zumindest die wichtigsten Entscheidungsbefugnisse über die Bahninfrastruktur jetzt und in absehbarer Zukunft in staatlicher Hand zu belassen. Diesem Plädoyer kann man angesichts der Krise der Berliner S-Bahn, die auf dem Weg zum letztlich gescheiterten Börsengang des Mutterkonzerns ähnlich heruntergewirtschaftet wurde wie die Deutsche Reichsbahn in der DDR, oder dem traurigen Zustand der britischen Privatbahnen nur zustimmen. Summa summarum ein nicht nur für Technikhistoriker lesenswertes Buch.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Christopher Kopper: Die Deutsche Reichsbahn 1949-1989, in: Lothar Gall / Manfred Pohl (Hgg.): Die Eisenbahn in Deutschland: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, 281-316.
[2] Vgl. Rüdiger Kühr: Die Folgen der Demontagen bei der Deutschen Reichsbahn (DR), in: Rainer Karlsch / Jochen Laufer (Hgg.): Sowjetische Demontagen in Deutschland 1944 - 1949. Hintergründe, Ziele und Wirkungen, Berlin 2002, 473-506.
Rainer Karlsch