Frank Bajohr: Hanseat und Grenzgänger. Erik Blumenfeld - eine politische Biographie (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; Bd. 46), Göttingen: Wallstein 2010, 302 S., 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-0600-4, EUR 29,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die Fraktion als Machtfaktor. CDU/CSU im Deutschen Bundestag 1949 bis heute, München: Pantheon 2009
Michael Gehler / Maddalena Guiotto (Hgg.): Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa. Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart, Wien: Böhlau 2012
Carsten Kretschmann: Zwischen Spaltung und Gemeinsamkeit. Kultur im geteilten Deutschland, Berlin: BeBra Verlag 2012
Frank Bajohr / Axel Drecoll / John Lennon (Hgg.): Dark Tourism. Reisen zu Stätten von Krieg, Massengewalt und NS-Verfolgung, Berlin: Metropol 2020
Frank Bajohr: "Unser Hotel ist judenfrei". Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003
Elke Seefried / Ernst W. Becker / Frank Bajohr u.a. (Hgg.): Liberalismus und Nationalsozialismus. Eine Beziehungsgeschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020
Liberal und unabhängig hat Ralf Dahrendorf seinerzeit ein Buch über den Verleger Gerd Bucerius betitelt. [1] Eine derartige Charakterisierung würde ebenso zu Erik Blumenfeld passen, den Frank Bajohr in einer aus seiner Habilitationsschrift hervorgegangenen Arbeit als Hanseat und Grenzgänger präsentiert. Mit dieser Bezeichnung ließe sich wiederum auch Bucerius recht gut beschreiben - sofern für den "Hanseaten" nicht zwingend eine Hamburger Geburt Bedingung ist. Ein Zufall ist das nicht, Blumenfeld und Bucerius verbindet vieles: Eine langjährige Freundschaft, beide waren Unternehmer, die sich politisch engagierten. Bucerius bot Blumenfeld in der ZEIT vielfach Gelegenheit, Stellung zu nehmen. Beide fanden nach anfänglichen Unsicherheiten bezüglich der für sie passenden Partei den Weg in die CDU. Beide standen dann aufgrund ihrer eher liberalen Orientierung oftmals im Gegensatz zu den großen Strömungen in der Union. Bucerius brach nach einer Auseinandersetzung mit Adenauer 1962 mit der Partei. Blumenfeld, der mehr und mehr als Politiker wirkte, stand bis ins hohe Alter mit seinen Positionen meist recht allein. Trotzdem war er für die CDU wichtig - aufgrund seiner Persönlichkeit im Allgemeinen sowie seines Schicksals im 'Dritten Reich' im Besonderen wirkte er als "wandelndes Vertrauenskapital" (273). Der weltgewandte, mühelos mehrsprachig parlierende Blumenfeld wurde oft als "diplomatische Feuerwehr" (160, Pressezitat) eingesetzt.
Bei Erik Blumenfeld handelte es sich um einen unabhängigen Geist, der seine Überzeugungen auch dann vertrat, wenn sie seiner Karriere eher hinderlich waren. Hinzugefügt sei, dass er sich als Erbe eines Unternehmens des Kohlen- und Brennstoffhandels diese Unabhängigkeit auch leisten konnte.
Der 1915 geborene Blumenfeld war zunächst ein unpolitischer Mensch. Nach ersten Repressalien, die er im 'Dritten Reich' als so genannter 'Mischling ersten Grades' zu erdulden hatte, wurde er verhaftet und nach Auschwitz gebracht; ein Grund für die Verhaftung war offenbar auch das Bestreben lokaler NS-Größen, die Familie Blumenfeld dazu zu bringen, einen Großteil der Aktien ihres Unternehmens abzugeben. Durch die Hartnäckigkeit von Blumenfelds verwitweter Mutter sowie mit viel Geld und Beziehungen gelang es, Blumenfeld zunächst in das KZ Buchenwald bringen zu lassen, schließlich wurde er 1944 entlassen. Preis dafür war, dass er seiner Sterilisierung zustimmte.
Blumenfeld erklärte später selbst, er sei erst durch Gespräche mit Sozialdemokraten und Kommunisten in Buchenwald politisiert worden. Kommunistisches Gedankengut blieb ihm zwar fremd, aber durch diese Erfahrungen hatte er später keinerlei Berührungsängste. Unmittelbar nach Kriegsende begann er, sich in der Hamburger Politik zu engagieren. Nach einigem Zögern entschied er sich für die CDU, wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck, den Adenauer auf ihn machte.
Im Laufe seines Lebens nahm Blumenfeld eine Vielzahl von Positionen und Mandaten wahr. Unter anderem führte er die Fraktion in der Bürgerschaft und die CDU in Hamburg. Er war langjähriger Bundestagsabgeordneter, Europaparlamentarier, Präsident der "Deutsch-Israelischen Gesellschaft" und engagierte sich im Verein "Atlantikbrücke". Er verfügte - auch aufgrund seiner Herkunft - über weitgespannte Kontakte. Beispielsweise hatte er John F. Kennedy bereits in den 1930er Jahren kennengelernt. Wie fast alle Hamburger war er im Konflikt zwischen "Gaullisten" und "Atlantikern" eindeutig auf der Seite der Letzteren - sehr zum Missvergnügen Adenauers. In die USA reiste er regelmäßig. An der Seite Amerikas stand er auch, als er den Vietnam-Krieg unterstützte, was ihm vielfach Anfeindungen einbrachte.
Blumenfeld trat für eine entspanntere Politik gegenüber dem Ostblock ein und sprach sich frühzeitig für die Anerkennung der polnischen Westgrenze aus. An eine deutsche Einheit glaubte er seit den 1970er Jahren nicht mehr, 1990 riet er von einer schnellen Wiedervereinigung ab.
Infolge der von Blumenfeld und Kurt Birrenbach 1965 unternommenen Sondierungen wurden schließlich diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel aufgenommen. Auch später wirkte er als "Krisenmanager der deutsch-israelischen Beziehungen" (240). Bei Israelkontakten bzw. -reisen deutscher Politiker war er beratend tätig. Wenn im Buch die Rede auf das entsprechende Agieren Helmut Kohls kommt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Frank Bajohr die Gelegenheit nutzt, Blumenfelds Kritik an dem von diesem ungeliebten Kohl ausführlich auszubreiten.
Bajohr fragt in der Einleitung, ob es nicht nur einen Zusammengang zwischen Blumenfelds Schicksal als ehemaligem Auschwitz-Häftling und seiner Funktion als internationales Aushängeschild der Bundesrepublik gebe, sondern ob man auch einen Zusammenhang zwischen dem Häftlingsschicksal und der Tatsache herstellen könne, dass Blumenfeld zwar einflussreich war, aber nie in ein hohes Staatsamt gelangte (8). Eine eindeutige Antwort bleibt aus, man könnte aufgrund der Lektüre dieser Biographie aber durchaus die Ansicht vertreten, dass Blumenfeld eigentlich gar kein solches Amt erstrebte, welches ihn in seiner Unabhängigkeit eingeschränkt hätte. 1953 zog er seine aussichtsreiche Kandidatur für die Position des Ersten Bürgermeisters zurück, vielleicht wurde er auch dazu gedrängt, ein Argument war sein vergleichsweise junges Alter. Aber gekämpft hat er nicht um diese Kandidatur. 1974 und 1978 stand er mit wenig Erfolgsaussicht zur Wahl als Erster Bürgermeister. Bajohr selbst räumt ein, dass sich die Trauer um das verpasste Amt wohl in Grenzen gehalten habe. Angst vor dem Verlust der Unabhängigkeit war es auch, die dazu führte, dass er Erwägungen, ihn als Botschafter nach Washington zu entsenden, ablehnend gegenüber stand. Gegen Widerstände hatte Blumenfeld stets anzukämpfen, zumal Hamburg alles andere als eine Hochburg der CDU war. Aber gehört wurde er eigentlich immer, nicht zuletzt aufgrund hervorragender Verbindungen zur Presse: Mit Axel Springer war er befreundet, ebenso mit Marion Gräfin Dönhoff, gute Beziehungen pflegte er zu Rudolf Augstein.
Blumenfeld thematisierte sein eigenes Verfolgungsschicksal selten, sprach sich aber deutlich für die Bestrafung von NS-Tätern oder gegen die Verjährung entsprechender Verbrechen aus. Altersmäßig repräsentierte er die "erste Generation der Bundesrepublik" (273), er gehörte also zu der Gruppe, die vor 1933 politisch nicht sozialisiert worden war; damit unterschied er sich von den meisten Politikern der frühen Bundesrepublik.
Durch seine Hamburger Herkunft und lebenslange Treue zur Heimat war Blumenfeld geprägt, seine wesentlichen außenpolitischen Überzeugungen hatten sich hier ausgeformt. Er verkörperte den typischen "Hanseaten". Blumenfeld war stark im Bereich der internationalen Beziehungen tätig. Bajohr führt auf diese Weise Stadtgeschichte mit Außenpolitik zusammen - Verbindungen, "die bislang in beiden geschichtswissenschaftlichen Subdisziplinen so gut wie keine Rolle spielen" (15).
Schließlich betont Frank Bajohr immer wieder das honoratiorenhafte Politikverständnis Blumenfelds, der im Übrigen auch als Mäzen wirkte. Die Mühe der Ebene, die Arbeit an der Parteibasis scheute er - was wohl nicht unwesentlich dazu beitrug, dass er in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre durch Vertreter des immer stärker werdenden "Funktionärstypus" von seinen landespolitischen Posten verdrängt wurde. Bezüglich seines Stils kann Blumenfeld als eine Figur aus einer anderen Zeit betrachtet werden, er lebte ganz klar für die Politik und nicht von der Politik. Sein Ideal war der "unaufgeregte Citoyen", entsprechend fiel das Urteil über die 68er aus ("Politspinner", 275). Durchaus elitär, entglitten ihm mitunter auch Bemerkungen wie etwa: "Man könnte boshaft sogar die Demokratie die Staatsform der verhinderten Persönlichkeit nennen." (122, Zitat Blumenfeld).
Nicht unkritisch, aber mit deutlicher Sympathie für seinen Gegenstand hat Frank Bajohr auf breiter Quellenbasis ein gut lesbares Buch über Erik Blumenfeld verfasst, welches sich nicht im Detail verliert und dennoch eine Vielzahl von Aspekten zur Sprache bringt, die mit Blumenfeld, der Geschichte Hamburgs und der Geschichte der Bonner Republik verbunden sind. Ein Problem bleibt allerdings am Ende bestehen: Es ist äußerst schwierig, Blumenfeld und sein vielfältiges Wirken mit den wenigen Worten, die in einem Buchtitel zur Verfügung stehen, vollständig und befriedigend zu erfassen.
Anmerkung:
[1] Ralf Dahrendorf: Liberal und unabhängig. Gerd Bucerius und seine Zeit, München 2000.
Erik Lommatzsch