Simon Hornblower: The Greek World. 479-323 BC (= Routledge History of the Ancient World), 4th ed., London / New York: Routledge 2011, XXI + 410 S., ISBN 978-0-415-60292-1, GBP 23,99
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Simon Hornblower: Thucydides and Pindar. Historical Narrative and the World of Epinikian Poetry, Oxford: Oxford University Press 2004
Simon Hornblower gehört seit nunmehr drei Jahrzehnten zu den profiliertesten und produktivsten Historikern des Klassischen Griechenland. Zu nennen sind u.a. die Studie über Mausolos und der monumentale dreibändige Thukydides-Kommentar [1], der von einer Monographie (1987) und einem Band mit gesammelten Studien über den athenischen Geschichtsschreiber (2010) eingerahmt wird. Als Mitherausgeber und -verfasser des Bandes über das 4. Jahrhundert in der Cambridge Ancient History (1994) und des Oxford Classical Dictionary (4. Auflage 2012) sowie als Bearbeiter einer vorzüglichen Sammlung übersetzter Quellen zur Pentekontaëtie (The Athenian Empire, 1984) übt Hornblower im akademischen Betrieb starken Einfluss aus; über diesen hinaus wirkt der umfangreiche Überblicksartikel zur griechischen Geschichte in der Encyclopedia Britannica. Zugleich geht der in Oxford wirkende Gelehrte immer wieder ganz eigene, die Fachwelt bisweilen verblüffende Wege, zuletzt in Thucydides and Pindar. Historical Narrative and the World of Epinikian Poetry (2004).
Sich selbst sozusagen begleitet hat Hornblower über den gesamten Zeitraum hinweg mit der nunmehr in vierter Auflage publizierten Darstellung der Klassischen Epoche. Sie erschien erstmals 1983, leicht verändert 1991, sodann in weiten Teilen neu geschrieben und erweitert 2002. [2] Die jetzt vorgelegte Revision soll die letzte sein (XII). Hinzugekommen ist im Kapitel zum Attischen Seebund ("Empire", 18-42) ein kurzer Abschnitt über die Inselwelt. Durchweg benutzt sind jetzt die Greek Historical Inscriptions 404-323 BC von Peter Rhodes und Robin Osborne (2003) sowie das im Copenhagen Polis Centre erstellte und von Hornblower gepriesene Inventory of Archaic and Classical Greek Poleis (2004).
Hornblower bietet in neunzehn Kapiteln kein Buch zum Lesen und keine 'Überblicksdarstellung'. Für Anfänger ist The Greek World eher ungeeignet; eine ertragreiche Lektüre setzt solide Grundkenntnisse voraus. Was der Autor vorträgt, sollte in beinahe jedem Satz durchdacht und nachgearbeitet werden. Das narrative Moment tritt in den Hintergrund; dafür werden immer wieder strittige Einzelfragen und Probleme der übergreifenden Interpretation umrissen und miteinander vernetzt - die zahlreichen Vor- und Rückverweise haben eine wichtige Funktion im Werk, ebenso das Register (388-410). Die Quellenverweise sind ganz überwiegend in den Fließtext integriert, während die dichten Endnoten (322-361) Literatur nennen und diskutieren.
Die Leitgedanken des Buches sind unverändert geblieben. Auch wenn die Einsicht mittlerweile Gemeingut ist: In keiner anderen mir bekannten Epochendarstellung aus der Feder eines einzelnen Autors tritt der polyzentrische Charakter der griechischen Geschichte so ins Licht wie hier. Neben Athen und Sparta sind auch andere Akteure und Regionen im Zentrum wie an der Peripherie mit eigenen Kapiteln bedacht: die Westgriechen, Kyrene und Ägypten, das Perserreich und Kleinasien, Makedonien, Thessalien und Boiotien sowie Korinth und Argos. Diese 'regionalen' Kapitel stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern sind miteinander vernetzt und münden in die Analyse der gemeingriechischen Ereignisse und Phänomene ein. So wird etwa die Rolle Korinths als Katalysator des Konflikts zwischen Athen und Sparta klar herausgearbeitet; das gilt auch für die Verbindungen zwischen dem makedonischen Königshaus und den Persern. Noch einmal verstärkt wird der Akzent der "connectivity" (38 mit Anm. 61) durch das neue Coverbild: Statt der Kopie einer Athenabüste wohl des Kresilas gibt nun ein 1995 in Palagruza an der Adria gefundenes Gefäßfragment mit dem Namenszug "Diomedes" dem Leser ein kleines Rätsel auf und animiert dazu, die zugehörige Erklärung (41f.) zu studieren.
Ein glänzendes Kapitel diskutiert die Folgen des Peloponnesischen Krieges. Hornblower befasst sich hier u.a. mit der Professionalisierung ("in the sense of specialized and technical knowledge, rather than with the necessary implication of paid as opposed to unpaid", 194), die zumal im Militärwesen Platz griff und dem Kommandeur eine größere Bedeutung gab, weil es ihn von Konventionen und Beschränkungen befreite, die im 5. Jahrhundert noch galten. Auch das Söldnerwesen, die Ausdifferenzierung der Waffengattungen sowie die Bedeutung des militärischen Trainings werden knapp und einleuchtend erörtert. Die politischen Ordnungen vormals peripherer Gebiete, die nun wie Epirus, Thessalien (unter Jason) und Makedonien gleichsam eine nachholende staatliche Formierung erlebten, charakterisiert der Autor treffend als Hybride (205).
Ab 431 verfährt Hornblower strenger chronologisch und erörtert den historischen Prozess an den gängigen Markierungen entlang (Peloponnesischer Krieg, Korinthischer Krieg, Königsfriede, Leuktra, Zweiter Attischer Seebund, Mantineia, der Satrapenaufstand, Philipp II.). Das abschließende Kapitel gilt Alexander dem Großen. Das ist konsequent, denn Hornblower schenkt - dies sein zweiter Leitgedanke - den Beziehungen und Diffusionen zwischen Griechenland und dem 'Osten' große Aufmerksamkeit. Schon sein Mausolos-Buch (1982) war im Kern eine Studie über einen Hellenismus vor dem Hellenismus; nunmehr heißt es programmatisch (4): "The two hundred years between Cyrus and Alexander can therefore be seen as an interruption in a single process by which hellenism was diffused through the formal settlement of whole new Greek communities." Alexander nahm das Angefangene lediglich auf. Der kleinteilige, detailverliebte Duktus des Autors gewinnt aus dieser ungewohnten Vogelperspektive universalhistorische Weite und Einheit. Für den griechischen Bereich im engeren Sinne bettet Hornblower die Details ein, indem er auf Kontinuitäten mittlerer Reichweite hinweist, etwa in der schon seit dem 6. Jahrhundert v.Chr. seeorientierten und 'imperialen' Politik Athens, im ebenfalls alten athenisch-spartanischen Gegensatz, in der Bedeutung der Monarchie in Syrakus, Kyrene und Makedonien nicht erst im 4. Jahrhundert oder in Gestalt von Mechanismen der Machtpolitik: In einem Dreiecksverhältnis unterstützt ein Akteur den jeweils schwächeren anderen gegen den stärkeren dritten (33 u.ö.).
Eine Fülle grundlegender Einsichten und wichtiger Beobachtungen macht die Lektüre gerade für Fortgeschrittene ertragreich, auch wenn selbstverständlich nicht alle Einschätzungen jeden überzeugen werden (etwa zum Ostrakismos: "a religious mechanism, a way of driving out the polluting scapegoat", 20). So führt Hornblower die oft widersprüchlichen Quellenberichte über die Politik Spartas und die erratischen, mitunter unberechenbaren Züge dieser Politik auf Spaltungen innerhalb der spartanischen Elite zurück, die mehrfach zu Umschwüngen führten, so bei der Reaktion auf den Verlust der Hegemonie durch die Gründung des Attischen Seebundes, nach Ankunft des athenischen Hilfskontingents unter Kimon oder nach dem Peloponnesischen Krieg (9; 127; 219 u.ö.). Ein anderer glänzender Gedanke: Die Gewöhnung der Spartaner an den von Nervosität und Gewalttätigkeit geprägten Umgang mit den Heloten machte sie untauglich, auf Dauer unter freien Griechen eine Führung zu etablieren, die Aussicht auf Akzeptanz gehabt hätte. Dass die Zuspitzung und Indizienverknüpfung manchem Leser zu weit zu gehen scheinen mag, ist in einem so thesen- und argumentationsfreudigen Buch unvermeidlich; das gilt etwa für die spartanische "Weltpolitik" (so 225), die nach dem Sieg im Peloponnesischen Krieg zumindest tentativ in alle vier Himmelsrichtungen Expansionsmöglichkeiten ausgelotet habe ("investigating possibilities", 225).
Auf der Höhe der Zeit befindet sich der Autor auch, wenn er die Einheit von 'Religion' und 'Politik' am Konflikt zwischen Athen und Sparta um die Kontrolle der großen panhellenischen Heiligtümer und Spiele im sogenannten Ersten Peloponnesischen Krieg evident macht (26) oder wenn er unterstreicht, wie wichtig Mythen für die Durchsetzung machtpolitischer Ansprüche waren. Politische Ausrichtungen, die in der antiken Überlieferung stark mit einzelnen Personen verbunden sind, führt Hornblower lieber auf Strukturen und Konstellationen zurück; das gilt für die angebliche Politik von Themistokles und Kimon nach der Perserabwehr (15; 21 u.ö.) oder das keineswegs von Lysander bestimmte imperiale Agieren Spartas nach 404 (221f. u.ö.).
Keine Erklärung oder gar Entschuldigung mehr wert ist dem Autor, was er vor zehn Jahren im (jetzt immerhin wieder abgedruckten) Vorwort noch meinte rechtfertigen zu müssen: Da die Zielgruppe - Studierende in England und den USA - Literatur in einer anderen Sprache als ihrer eigenen nicht zur Kenntnis nehmen könne, zitiert er solche Studien nur, "where the work in question is absolutely outstanding" (XIV). Manches wird also durchaus angeführt, doch kommen im Literaturverzeichnis (362-387) z.B. die Namen Welwei und Gehrke nicht vor. Aber das vorliegende Werk ist eben, wie skizziert, kein simples "textbook", sondern verfährt durchweg problemorientiert, was die faktische Eliminierung der internationalen Diskussion wenig überzeugend erscheinen lässt. Instruktion mag sich auf die Landessprache beschränken, Forschung, selbst wenn sie 'nur' im Rahmen einer pointierten Synthese vorgeführt wird, darf es nicht.
Trotz dieser Einschränkung: Hier liegt ein ausgereiftes und intellektuell hochrangiges Buch über eine nach wie vor das Denken herausfordernde Epoche der antiken Geschichte vor.
Anmerkungen:
[1] 1991/1996/2008; s. etwa Karl-Wilhelm Welwei: Ein opus magnum zu Thukydides, in: Gymnasium 117, 2010, 591-596.
[2] Dazu Uwe Walter, HistLit 2, 2004, H. 1, 42-45 (= http://www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-033.pdf).
Uwe Walter