Miriam Rieger: Der Teufel im Pfarrhaus. Gespenster, Geisterglaube und Besessenheit im Luthertum der Frühen Neuzeit (= Friedenstein-Forschungen; Bd. 9), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011, 328 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-09869-4, EUR 55,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Karl Härter / Gebhard Sälter / Eva Wiebel (Hgg.): Repräsentation von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2010
Anja Amend-Traut / Josef Bongartz / Alexander Denzler u.a. (Hgg.): Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020
Elke Hammer-Luza: Im Arrest. Zucht-, Arbeits- und Strafhäuser in Graz (1700-1850), Wien: Böhlau 2019
Im konfessionspolitischen Abgrenzungskampf hat sich die protestantische Seite über lange Zeit hinweg als jene wahre Trägerin von Aufklärung und wissenschaftlichem Fortschritt in Szene zu setzen gewusst, zu der irrationale Praktiken wie der Geisterglaube und die mit ihm verbundenen Austreibungen (Exorzismus) nicht so recht passen wollten. Entsprechend gelten beide Phänomene bis heute weithin als eine katholische Spezialität. Im Repertorium der Sinnstiftungsangebote der Frühen Neuzeit nahm der Geisterglaube aber auch im Luthertum einen zentralen Platz ein. Das versucht die vorliegende Arbeit nachzuweisen, eine in Erfurt entstandene Dissertation, die sich am Beispiel des obersächsischen Raums der Untersuchung des "lutherisch geprägten Deutungsmusters Gespenst" (Rückentext) widmet. Ausgewertet wurden dafür über 60 Fälle von Geistererscheinungen aus der Zeit um 1700 sowie deren Bewältigung durch die sozialen Akteure, wobei die Studie die These vertritt, die eminente Rolle des Geisterglaubens im Luthertum habe sich aus dem konfessionellen Selbstverständnis der protestantischen Geistlichkeit gespeist. Mit anderen Worten: Gespenster und Poltergeister hatten ihren festen Platz, solange sie kirchenamtliche Rückendeckung erhielten. Erst nachdem diese - maßgeblich durch die Auseinandersetzung mit dem Pietismus - weggefallen war, verschwand ihre soziale Bindekraft und damit auch ihre Stellung in Theologie und populärer Frömmigkeitspraxis (10).
In enger konzeptueller und methodischer Anlehnung an die angelsächsische Gespensterforschung näher untersucht werden vier Schlüsselmomente dieser Entwicklung, als deren Kristallisationskerne die Autorin jeweils exemplarisch einzelne Gespenstergeschichten vorstellt. Zunächst widmet sie sich der "Lutheranisierung" (64) des Geisterglaubens, also der Ausprägung eines typisch protestantischen Deutungsmusters von Gespenster- und Geistererscheinungen. Diese wurden, anders als im Katholizismus, nicht mehr als wandelnde Seelen von Toten verstanden. Vielmehr nahmen Luther und seine Anhänger eine seit dem Mittelalter vorhandene Interpretation auf, die in ihnen Anfechtungen des Teufels sah. Diese Dämonisierung des Gespenstes ging einher mit einer radikalen Kritik der katholischen Austreibungspraktiken; statt Reliquien und Messen, so die Lutheraner, würden gegen die teuflischen Poltergeister nur "wahre christliche Mittel", also Gebet und Fürbitte, Gesang und Bibellektüre, helfen. Um 1690 war diese lutherische Deutung des Phänomens Gespenst voll ausgeprägt und wurde - besonders deutlich am Beispiel einer Geistererscheinung im gemischtkonfessionellen Bautzen 1684 - offensiv auch im Kampf gegen die "Papisten" eingesetzt. Statt von einer "Entkonfessionalisierung", wie sie sich in England Ende des 17. Jahrhunderts beobachten lässt, spricht die Autorin deshalb von einer "Aktualisierung und Vergegenwärtigung" (85) spezifisch konfessioneller Inhalte des Geisterglaubens im protestantischen Deutschland.
In einem zweiten Schritt nähert sich die Studie dem Verhältnis von Geisterglauben und Pietismus. Dabei wird zum einen aufgezeigt, wie sich das zunächst vorhandene Einverständnis zwischen Laien und lutherischer Geistlichkeit hinsichtlich der Deutung von Gespenstererscheinungen langsam auflöste und ein seelsorgerisches Vakuum hinterließ, das der Pietismus mit seinen spiritistischen Neigungen auszufüllen wusste. Zum anderen wird untersucht, wie eng die tendenzielle Abnahme der "Gespenstergläubigkeit" im Luthertum mit dem Aufkommen der dissidenten Bewegung selbst zusammenhing und in welchem Maß sich in der Auseinandersetzung zwischen beiden Blöcken ein bewusst lanciertes und bis heute nachwirkendes Vorwurfsprofil gegen die Pietisten formte.
Daran anschließend werden in einem dritten Abschnitt Geisterglauben und Geisteraustreibung im Luthertum als religiöses Spektakel analysiert. Ausgehend von einem Luther selbst zugeschriebenen "Lehrexorzismus" zeigt die Autorin dabei eindrücklich die performativen Qualitäten der Austreibungspraktiken auf ("Potential zum event", 161). Gegen das Klischee des nüchternen (sprich: rationalen) Umgangs mit abergläubischen Praktiken im Protestantismus kann Rieger überzeugend darlegen, wie die Erscheinungen im Stil eines "lehrreichen Dramas" bewältig wurden, wobei sich theologische Lehrmeinung und populäre Überlieferungstraditionen und Erzählstoffe zu einem gemeinsamen Skript verbanden, dessen Qualität als von Geistlichen und Laien geteiltes Kulturmuster nicht zuletzt in der großen öffentlichen Aufmerksamkeit und Anteilnahme zum Ausdruck kam, die jede Austreibung fand. Dieses Kapitel, das mit der eingehenden Untersuchung der lutherischen Praxis der Teufelsaustreibung für den deutschsprachigen Raum weitgehend Neuland betritt, ist sicherlich das stärkste des ganzen Buches.
Im vierten und letzten Abschnitt widmet sich die Autorin schließlich der Transformation des Geisterglaubens von einem plausiblen und legitimen kulturellen Deutungsmuster zur als Aberglauben, Krankheit oder Betrug abgestempelten Devianz. Indem sie diesen Prozess erneut der Auseinandersetzung zwischen orthodoxem Luthertum und pietistischem Schwärmertum ("begeisterte Mägde") einschreibt, kann sie auch hier eigene Akzente setzen; ansonsten bleibt sie in diesem Teil weitgehend auf dem Niveau des bekannten Forschungsstandes (die geschlechtsspezifischen Überformungen dieser Veränderungen eingeschlossen).
Obwohl sie ihn in einen deutlich längeren Transformationsprozess vom 16. bis zum 18. Jahrhundert einbettet (16-25), nimmt die Studie letztlich eingehend nur einen kurzen Abschnitt von nicht einmal fünfzig Jahren (1672-1720) in den Blick. Plastisch werden für den Leser dadurch vor allem die Konflikte zwischen orthodoxen Lutheranern und Pietisten sowie die massive Verdrängung des Geisterglaubens aus der offiziell gebilligten Frömmigkeitspraxis des Luthertums. Obwohl das konfessionelle Moment eines der Hauptargumente des Buches ist, bleibt der Stellenwert des Geisterglaubens in den Auseinandersetzungen mit dem Katholizismus hingegen unterbelichtet - dafür hätte die Studie stärker komparatistisch ausgerichtet werden müssen. Auch vergleichende Einsichten in die Formen des alltagspraktischen Umgangs mit Besessenheit in katholischen und protestantischen Gegenden müssen Folgestudien überlassen bleiben. Nacherlebbar macht die Studie hingegen die starke populäre Verankerung des Geisterglaubens und die theatralische Qualität der von Geistlichen und Laien gleichermaßen getragenen Austreibungen. Auch hier aber bleiben Fragen offen, etwa danach, was nach der offiziellen Abdrängung des Geisterglaubens in den Bereich des Abergläubischen von diesen Praktiken konkret übrig blieb.
Klarer noch wären die Ergebnisse der Studie hervorgetreten, wenn nicht nur zwei, sondern alle Kapitel mit einer Zwischenzusammenfassung versehen worden wären. Die nicht einmal vier Seiten zählende Schlusszusammenfassung, die eher ein Ausblick ist, schafft hier keine Abhilfe. Schade ist auch, dass die reichhaltige französische Forschungsliteratur zum Thema Besessenheit, aber auch zur Konstruktion konfessioneller Unterschiede im Alltag, offenbar nur wahrgenommen wurde, wenn sie in Übersetzung vorlag (vgl. 141, Anm. 8). Das letzte Wort zum Thema ist die Studie somit sicher nicht. Der Autorin kommt jedoch das nicht geringe Verdienst zu, ein bislang kaum beleuchtetes Feld der Aberglaubenspraxis zugänglich gemacht und damit weiteren Arbeiten den Weg geebnet zu haben.
Falk Bretschneider