Johannes M. Ruschke: Paul Gerhardt und der Berliner Kirchenstreit. Eine Untersuchung der konfessionellen Auseinandersetzungen über die kurfürstlich verordnete 'mutua tolerantia' (= Beiträge zur historischen Theologie; Bd. 166), Tübingen: Mohr Siebeck 2012, XVIII + 628 S., ISBN 978-3-16-150952-0, EUR 114,00
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Die umfängliche Studie, eine Münsteraner kirchengeschichtliche Dissertation, erhebt den Anspruch, "die Forschung zu Paul Gerhardt und zu den frühneuzeitlichen Toleranzbemühungen anhand bisher nicht oder kaum ausgewerteter Quellen zu erweitern und zu korrigieren" (V). Diesem Anspruch möchte sie inhaltlich durch eine detaillierte Analyse des so genannten Berliner Kirchenstreits Mitte des 17. Jahrhunderts gerecht werden. Dazu beleuchtet sie nach der Einleitung (1-25) die "Ursachen und Hintergründe der innerprotestantischen Kontroverse in Brandenburg" (26-95), bevor sie auf den Berliner Kirchenstreit zu sprechen kommt, den sie in drei Phasen unterteilt (96-175; 176-344; 345-504). Den Abschluss des Darstellungsteils bildet eine "Würdigung" (505-529), der sich ein die Studie sinnvoll ergänzender Materialanhang (531-562) anschließt.
Den eigentlichen Gegenstand seiner Arbeit bahnt Ruschke weit ausholend an: "Ansetzen wird diese Studie [...] bereits im 16. Jahrhundert. Besonders in der Reformationszeit und zu Beginn des 17. Jahrhunderts sind Weichenstellungen erfolgt, die zu erwähnen für das Verständnis des Themas unerlässlich sind." (7) Diese umfassende Herangehensweise stellt den Verfasser der Studie allerdings vor Probleme: Wenn Ruschke beispielsweise dem Dreißigjährigen Krieg und dem Westfälischen Frieden einen nur knapp dreiseitigen Exkurs widmet (44-46) oder gar den Versuch unternimmt, die Ursachen der Abendmahlsstreitigkeiten auf lediglich zwei Seiten abzuhandeln (47-49), unterlaufen ihm zwangsläufig Verkürzungen, die die Frage aufwerfen, ob nicht entsprechende Verweise auf die reichhaltige einschlägige Literatur ausgereicht hätten und somit der oberflächlich zusammenfassenden Darstellung vorzuziehen gewesen wären.
Von derartigen Schwächen ist nun das eigentliche Kernstück der Arbeit, die Analyse des Berliner Kirchenstreits unter Berücksichtigung der Rolle Paul Gerhardts, frei: In einer von Fleiß und Entdeckerfreude zeugenden Genauigkeit seziert Ruschke nicht nur die einzelnen Phasen des Kirchenstreits, sondern stellt auch die daran neben Gerhardt und Kurfürst Friedrich Wilhelm beteiligten Personen lutherischer und reformierter Provenienz vor (107-127). Besondere Aufmerksamkeit schenkt er dabei dem Religionsgespräch, das der Kurfürst 1662/63 in der Doppelstadt Berlin/Cölln zur Erreichung einer mutua tolerantia veranstalten ließ (176-344). Ruschke ist es gelungen, durch bisher in der Forschung nicht berücksichtigte oder sogar unbekannte Aktenstücke (dazu 10f.) ein detailreiches Bild des Kolloquiums zu zeichnen: Er schlägt den Bogen von den logistischen Vorbereitungen und der Einladung der Teilnehmer durch den Kurfürsten über die einzelnen Sessionen bis hin zu den Nachwirkungen, zu denen ja auch Gerhardts Amtsverzicht und Weggang aus Brandenburg zu zählen ist. Bei der Schilderung der siebzehn Sessionen führt Ruschke den Leser dankenswerterweise auch immer wieder gleichsam hinter die Kulissen, indem er inoffizielle Treffen der Kolloquiumsteilnehmer und deren den Gesprächsverlauf streckenweise moderierende Voten in seine Beschreibung der Abläufe mit einbezieht (z. B. 232-236; 248-251; 270-281).
Auch und gerade die Voten Gerhardts werden in diesem Zusammenhang immer wieder in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt und ermöglichen den Nachvollzug des Denkens und der daraus resultierenden Argumentation des orthodoxen Lutheraners (z. B. 274-276; 290-292; 303-305): Er präsentiert sich darin als fest im Boden der lutherischen Bekenntnisschriften, vor allem der Konkordienformel, verwurzelter Theologe, der seine Konfession mit der Glaubenswahrheit identifiziert und so aus Gewissensgründen eine mutua tolerantia, wie sie dem Kurfürsten und den reformierten Theologen vorschwebt, ablehnen muss. Ganz ein Kind seiner Zeit und seiner theologischen Sozialisation, verwirft Gerhardt alle vermeintlich irenischen Ausgleichsversuche mit den Reformierten als Synkretismus, eben weil und sofern ihm ein noch so geringes Abweichen von den Bekenntnisschriften als einzig statthafte Auslegungen der biblischen Botschaft schlicht als Verrat an der allein seligmachenden Wahrheit erscheinen muss. Damit ist er ein typischer Repräsentant derjenigen breiten Strömung innerhalb des frühneuzeitlichen Luthertums, die die von den Reformierten und der Calixt-Schule aus nur auf den ersten Blick irenischen Gründen forcierte Lehre von den Fundamentalartikeln als inkonsequent und letztlich unaufrichtig entlarvt und so konsequenterweise ablehnt.
Nun arbeitet Ruschke heraus, dass das Religionsgespräch, das schließlich beendet werden musste, ohne den aus kurfürstlich-reformierter Perspektive gewünschten Erfolg zu zeitigen, und mit ihm der Berliner Kirchenstreit auf Reichsebene keineswegs im luftleeren Raum stattfanden. Beide Seiten suchten Orientierung und Unterstützung in anderen Territorien bzw. bei anderen Theologen, die der eigenen Haltung nahe standen. So suchte der Kurfürst beispielsweise die Nähe der Rintelner theologischen Fakultät (332-334), während die lutherischen Pfarrer um Gerhardt demonstrativ den Schulterschluss mit als orthodox zu bezeichnenden Fakultäten, allen voran natürlich Wittenberg, herstellten (56-63; 360f.). Mit Rinteln und Wittenberg wurden so die zwei Fakultäten in die brandenburgischen Auseinandersetzungen involviert, die parallel zum Berliner Kolloquium noch ihren erbitterten Streit um das Kasseler Religionsgespräch von 1661 austrugen, welches Friedrich Wilhelm prompt zum Vorbild des von ihm initiierten Kolloquiums erhob, wohingegen es mit seinem Ausgang Gerhardt geradezu als Drohszenario diente (z. B. 239-242). Gerade in der Nachzeichnung derartiger Kontextualisierungen liegt eine Stärke der Studie.
So lässt sich nach dem vorangehenden, freilich bestimmte Schwerpunkte setzenden Überblick abschließend Folgendes festhalten: Die von Ruschke vorgelegte Monographie ist in ihrer Ausführlichkeit ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der innerprotestantischen Konflikte und ihrer Austragungsweisen im 17. Jahrhundert. Sie macht, neuere Forschungsansätze bestätigend, gerade in ihrer Rekonstruktion des Religionsgesprächs von 1662/63 und exemplarisch an der Person Gerhardts deutlich, warum derartige Ausgleichsversuche, waren sie obrigkeitlich verordnet oder nicht, inhaltlich-strukturell im Zeitalter der Orthodoxie nicht zum Erfolg führen konnten, warum es also erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts und hier im jungen Pietismus - genannt sei vor allem Spener - gelang, ideen- und mentalitätsgeschichtlich Wege zu beschreiten, die ein Miteinander von Lutheranern und Reformierten ohne "faule" Kompromisse in Glaubensfragen und Wahrheitsdeutungen ermöglichen sollten. Dass die Arbeit gerade in dem Versuch der umfassenden einleitenden Darstellung der theologischen, reichsrechtlichen und politischen Voraussetzungen des Berliner Kirchenstreits seit der Reformation auf gedrängtem Raum aus Verkürzungen resultierende Schwächen aufweist, tut ihrer soeben benannten Leistung keinen Abbruch. Ob die Studie - ihrem Anspruch entsprechend - die Forschung zu frühneuzeitlichen Toleranz- und interkonfessionellen Ausgleichsbemühungen durch die von ihr aufgetanen neuen Quellen tatsächlich korrigiert, oder ob sie sie nicht vielmehr erweitert und bereichert, bleibt allerdings zu fragen.
Christian Volkmar Witt