Ingmar Arne Burmeister: Annexion, politische Integration und regionale Nationsbildung Preußens "neuerworbene Provinzen": Kurhessen in der Reichsgründungszeit 1866-1881 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte; Bd. 163), Darmstadt: Hessische Historische Kommission Darmstadt 2012, 639 S., ISBN 978-3-88443-318-8, EUR 48,00
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Der Krieg von 1866 hatte nicht nur die Auflösung des Deutschen Bundes, sondern auch die Annexion von vier bisher souveränen deutschen Staaten durch Preußen zur Folge. Drei deutsche Fürsten, die es gewagt hatten, sich mit Österreich gegen Preußen zu stellen, verloren dabei ihre Kronen. Dieser bis dahin einmalige Vorgang brach mit Legitimitäts- und Rechtsvorstellungen. Er bedeutete für den preußischen Staat einen gewaltigen Gebiets- und Bevölkerungszuwachs, der große Integrationsleistungen erforderte.
Bislang hat sich die Forschung mit der Annexion und Integration dieser Staaten vergleichsweise wenig beschäftigt. Die vorliegende Heidelberger Dissertation vollzieht diesen Prozess für das ehemalige Kurfürstentum Hessen nach. Sie stützt sich dabei in erster Linie auf die Arbeiten von Hellmut Seier und Thomas Klein und wertet die vorhandenen Quellenbestände in umfassender Weise aus. Ziel der Arbeit ist es, die Integrationspolitik des preußischen Staates in Kurhessen und deren Rückwirkungen auf den Kernstaat zu untersuchen. Die Integration begreift der Verfasser dabei als einen politischen Prozess, geprägt durch institutionelle Veränderungen. Er nimmt dabei die Bereiche Organisation und Administration, die Tätigkeit der Repräsentativkörperschaften, die politische Entwicklung und die Konflikte in Kurhessen sowie die politische Kommunikation und Inszenierung als Handlungsebenen besonders in den Blick. Die Arbeit selbst ist im Wesentlichen chronologisch aufgebaut.
In der Einleitung skizziert Burmeister die Konfliktfelder und die politische Konstellation in den letzten Jahrzehnten des Kurfürstentums. In seinem ersten von vier Kapiteln widmet er sich dann dem Ende des Kurfürstentums Hessen, beginnend mit dem Einmarsch preußischer Truppen in Kassel und der Errichtung des Besatzungsregimes. Er kommt dabei zum Fazit, dass sich die Annexion erst angesichts der kriegerischen Erfolge ergab und zunächst nicht zu den ursprünglichen Zielen von Bismarcks Politik gehörte. Von vereinzelten Stellungnahmen abgesehen, stieß die Angliederung Kurhessens nicht auf öffentlichen Widerspruch. Es folgt die Darstellung des Übergangsjahres 1866/67 und mit ihm die Einrichtung der Regierung Kassel als Teil der preußischen Provinz Hessen-Nassau. Der Beginn der preußischen Herrschaft war durch eine wahre "Verordnungsschwemme" gekennzeichnet und wird vom Verfasser ambivalent bewertet: Zwar wurde in kurzer Zeit die staatlich-rechtliche Vereinheitlichung vorangetrieben, zugleich aber in den neu erworbenen Gebieten zunächst Rechtsunsicherheit geschaffen, da oft alte neben neuen Vorschriften bestehen blieben. Außerdem wurden die Erfordernisse einer planvollen Integration vernachlässigt. Die mangelnde Berücksichtigung der kurhessischen Verhältnisse führte zu Beschwerden und schließlich zum Eingreifen des Königs, der gegen den Widerspruch mehrerer Ressortminister Vertrauensmännerversammlungen einberief. Die mangelnde Repräsentanz Kurhessens - wie aller neuen Provinzen - im preußischen Herrenhaus konnte allerdings nicht behoben werden.
Das anschließende Kapitel behandelt die Rolle des preußischen Kurhessen im Norddeutschen Bund in den Jahren bis 1870, wobei besonders die parlamentarische Ebene eingehend betrachtet wird. Dabei stellt Burmeister fest, dass ein Großteil der altpreußischen Abgeordneten deutlich unitarischer als die Regierung eingestellt war. In Kurhessen selbst stützte sich die preußische Regierung auf die bereits aus der kurfürstlichen Verwaltung stammenden Beamten. Eine nennenswerte althessische Opposition konnte sich nicht formieren, sicherlich auch, wie Burmeister feststellt, aufgrund der Erinnerung an die Missregierung und die politischen Kämpfe unter der Herrschaft des Kurfürsten. Allerdings schlugen die Versuche einer kirchlichen Reorganisation fehl, so dass hier erst 1873 eine Zusammenlegung der Konsistorien möglich wurde. Den Abschluss bildet das erste Jahrzehnt Kurhessens im Deutschen Kaiserreich. Der erfolgreiche Krieg gegen Frankreich förderte die Verbindung mit der preußischen Militärtradition und hatte eine einheitsstiftende Wirkung. Die Probleme, die sich aus der Integration Kurhessens ergaben, traten dagegen allmählich in den Hintergrund. Der Tod des Kurfürsten 1875 stürzte die kleine, schon durch die Reichsgründung geschwächte althessische Opposition endgültig in die Krise. Da der König von Preußen nun auch Deutscher Kaiser war, ergaben sich nationale Bezugspunkte, in denen sich regionale Traditionen gut integrieren ließen.
Burmeister sieht die preußische Annexionspolitik vorwiegend als opportunistisch, machtpolitisch und prinzipienlos an. Er betont die Vielzahl der Akteure bei der Annexion und relativiert dadurch die Rolle Bismarcks. Besondere Bedeutung misst er finanziellen Belangen zu; an der Frage des Staatsschatzes konnten sich daher ernsthafte Konflikte entzünden. Die Annexion und Integration Kurhessens in den preußischen Staat werden quellennah, detailreich und in großer Dichte dargestellt. Dies macht die Lektüre des Buches nicht immer zu einem Vergnügen. Wer sich jedoch der Mühe unterzieht, wird mit einer Fundgrube an Ergebnissen zur Integrationspolitik Preußens belohnt, die nicht nur auf den konkreten Fall anwendbar sind. Burmeister legt die erste umfassende Studie zur Integration der neupreußischen Gebiete nach 1866 vor, die von großem Fleiß und einer breiten Auswertung der einschlägigen Quellenbestände zeugt. Seine Ergebnisse zu Kurhessen vergleicht er dabei stets mit den parallelen Entwicklungen in Nassau und Hannover. Allerdings wird zu fragen sein, ob Integration auf vorwiegend politische und administrative Vorgänge reduziert werden kann und man nicht auch gesellschaftliche und kulturelle Prozesse mit einbeziehen müsste.
Michael Wettengel