Rudolf Herz: Marcel Duchamp - le mystère de Munich, München: Moser 2012, 332 S., ISBN 978-3-9814177-4-6, EUR 59,00
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Hundert Jahre nach Marcel Duchamps dreimonatigem Besuch in München (1912) wird endlich eine entscheidende Lücke ("le mystère") im kunsthistorischen Wissen zu füllen versucht. Trompetenstoßähnlich geschieht dies mit einer Ausstellung, gut organisiert vom Lenbachhaus, zwei beachtlichen Publikationen, einem Duchamp Journal und einem seltsam gekippten Wohnungsmodell neben der Alten Pinakothek, das dem Betrachter mit 'kalten' Wänden in etwa Duchamps ehemalige Wohnsituation in der (später ausgebombten) Barerstr. 65 vorführt. Dieses Modell ist das Werk des Bildhauers und promovierten Kunsthistorikers Rudolf Herz, der auch eines der beiden Veröffentlichungen und das Journal verantwortet - wohl das reizvollste und überraschendste Buch, das je über Duchamp gedruckt wurde. Ungläubig und amüsiert blättert man zunächst durch das reichhaltige Abbildungsmaterial. Es könnte kaum inadäquater sein, dieses Nebeneinander von besagtem Wohnungsgrundriss, samt zugehöriger Zeitungsannonce, Atelieraufnahmen von breitbeinigen Nacktmodellen und sogar einer lebendigen Kuh (!) bei Duchamps Münchner Maler-Freund Max Bergmann, außerdem Hallenaufnahmen aus der Bayerischen Gewerbeschau und dem Deutschen Museum mit den technischen Errungenschaften aus dem frühen 20. Jahrhundert in altmodischen Inszenierungen, daneben Vedutenfotos, Schnittmuster, technische Zeichnungen in einem Wörterbuch und vieles mehr. Neugierig auf Erklärungen sucht man im Text nach Argumenten für dieses Potpourri, und die gibt es glücklicherweise reichlich in leicht lesbaren und gründlichen Kapiteln.
Das dicke Buch wird mit einem Interview mit Rudolf Herz eröffnet, als Vorgeschmack auf die folgende kriminologische Spurensuche und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen. Vorsichtig werden sie vorgetragen, denn Herz geißelt die kunsthistorische Strategie vieler Duchamp-Exegeten, die aus späten Aussagen des Künstlers Fakten machen oder aus Vermutungen Deutungsgebäude zimmern. Seine Sprache durchziehen zuhauf Worte wie "vermutlich - vielleicht - möglicherweise". Frage reiht sich an Frage. Zweifelnd widerspricht er seinen Vorgängern, die nach Duchamps Münchner Inspirationen gesucht haben, sogar dem derzeitigen Hauptspezialisten Herbert Molderings, obwohl dieser vom Autor nachdrücklich geachtet wird. Amüsante Fakten, Herz' Zweifel und sein Widerspruch machen die Lektüre bis in die letzte der gründlichen Fußnoten hinein spannend. Folgerichtig vergleicht man sie am Ende mit den vorgebrachten Tatsachen und Deutungen im Katalog zum Jubiläumsjahr.
Um es vorwegzunehmen: Herz hat viel Neues über Duchamp zu bieten: Zwar wusste man bereits, dass sein Vermieter ein gewisser 'Maschinist' oder vornehmer 'Ingenieur' namens Greß war, aber dass es sich um August Greß handelte, der in der Lokomotivenfabrik Maffei als Maschinenkonstrukteur arbeitete und im Oldenbourg-Verlag zeitweilig für die technischen Zeichnungen des "Illustrierten Wörterbuches" verantwortlich war, ist für die Forschung von neuem Wert. In einem Militärarchiv nach Greß zu suchen, darauf war bisher noch kein Duchamp-Forscher gekommen. Herz machte auch im Umfeld von Greß reiche Beute. Dass dieser mit der Schneiderin Therese verheiratet war, die im Raum neben Duchamps Zimmer die Nähmaschine rattern ließ und Heftfäden in Stoffe einzog, hat angesichts der beiden Hauptwerke des französischen Mieters La mariée und Le passage de la vierge à la mariée und einigen Zeichnungen aus dieser Periode besondere ikonografische Bedeutung: Dort gleichen gemalte Punktreihen Thereses Heftfäden. Sie hat ihn wohl auch zu späteren Stickereien auf Bildern angeregt. Anatomisch-technische Bildmotive auf diesen seltsamsten Gemälden jener Jahre schreibt Herz mit der größten Wahrscheinlichkeit erstens Inspirationen aus den Greßschen Zeichnungen zu und zweitens Abbildungen im Anatomiebuch von Friedrich Wilhelm von Scanzoni (1867), das er vermutlich in München habe einsehen können. Und in der Tat scheint hier manches von Duchamp in seine Bilder übersetzt und variiert worden zu sein: Nabelschnüre und gedrehte Kindergliedmaßen, ferner eine Geburtszange.
In Duchamps Fokussierung auf nicht-malerische und unromantisch/rationale Darstellungen und in seiner altmeisterlichen Arbeitsweise für die gemalte oder gezeichnete Motivverschmelzung von natürlichen und technischen Bildmotiven sieht Herz schließlich seine These bestätigt, für Duchamp habe München als "Wiege seiner Konzeptkunst" gewirkt. Jedoch wird dieser Kunstbegriff nicht weiter mit der gleichnamigen Kunsttheorie um 1966 verglichen. Hier bleibt der Autor unscharf. Wie seine Kollegen so meint auch Herz, dass Duchamp die große Ausstellung der Bayerischen Gewerbeschau gesehen haben könnte oder auch das Deutsche Museum, damals noch mit Sitz in der Maximilianstraße. Mit Blick auf die beruflichen Aufgaben von Greß, die Herz entdeckte, sieht er ihn folgerichtig als Duchamps wichtigen Tippgeber und nicht etwa den Maler schöner Nackter und Kühe, Max Bergmann. Abbildungen zu Installationen einer technisierten Energie - ein Hype jener Jahre - lassen in diesen Präsentationen der Technik und des Gewerbes Inspirationsquellen für Duchamp vermuten, da er ja damals bereits erste Notizen zum Großen Glas anfertigte. Allerdings wird von Herz an keiner Stelle auf die Kraft von Duchamps allegorischen Imaginationen hingewiesen oder werden diese weiter erläutert. Herz hält sich von Deutungen lieber fern. Das geschieht dagegen reichlich in sprachlich gelungenen Aufsätzen des Ausstellungskataloges, die jedoch, wie man laut Herz nun weiß, auf etlichen falschen Annahmen beruhen: Duchamp konnte wahrscheinlich Cranachs Gemälde Adam und Eva in der Alte Pinakothek 1912 noch nicht gesehen haben, ganz sicher nicht dessen Adam und Eva in Leipzig, da es sich damals noch in einer Privatsammlung befand, und aus gleichem Grunde ebenso wenig ein Wandbild von Böcklin im Kunstmuseum Basel, das zu ersten Überlegungen für das große Glas geführt haben soll. Solche Bildexegesen werden von Herz vom Tisch gefegt.
Dennoch ergeben sich hervorragende Ergänzungen zwischen beiden Publikationen, um nur Weniges zu nennen: Zu Molderings Beschreibungen einzelner Hallen in der Bayerischen Gewerbeschau, ebenso zu Überlegungen von Thomas Girst zur möglichen Inspirationsquelle des Objekt-Komikers Karl Valentin für Duchamps später entstandene Ready-Mades (wenn sie auch noch nicht diesen Namen erhielten) muss man die Herz'schen Funde heranziehen. Zu seinen erstaunlichen Fundstücken gehört auch ein Fotoporträt des München-Besuchers, das der spätere Hitler-Fotograf Heinrich Hoffmann anfertigte. Duchamps Frontalansicht wird von Herz überzeugend mit der Dürers in der Alten Pinakothek verglichen: Für den deutschen Maler war es ein Sinnbild für ein neues künstlerisches Selbstbewusstsein, nicht anders als für den fotografierten Noch-Maler Duchamp 1912. Apollinaire hatte das Foto für ein Buch über den Kubismus in Auftrag gegeben - den Kubismus nota bene -, den Duchamp nun schon überwunden hatte: München sei der Schauplatz seiner totalen Freiheit gewesen, so erklärte er später. Herz hat ihn uns nun in aller Frische ausgemalt.
Antje von Graevenitz