Leopoldine Prosperetti: Landscape and Philosophy in the Art of Jan Brueghel the Elder (1568-1625), Aldershot: Ashgate 2009, xvii + 274 S., ISBN 978-0-7546-6090-3, GBP 65,00
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"The art-historical account of landscape is a kind of quest-romance in which pure landscape is the grail to be obtained after numerous trials." [1] Wenn in der europäischen Malerei der Neuzeit eine zunehmende Autonomisierung des Landschaftsbildes festgemacht wird, so gilt die holländische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts nicht selten als einer der bedeutendsten der - um es mit Mitchell zu sagen - "numerous trials" auf diesem Weg. So wird den ab 1620 verbreiteten Landschaftskompositionen von Malern wie Jan van Goyen oder Esaias van de Velde attestiert, eine eigenständige und realistische Landschaft zu konzipieren: Deren oft begrenztes und verdichtetes Motivrepertoire könne zwar durchaus noch Bezüge zu der tradierten religiösen Bildsymbolik aufweisen, sei aber insgesamt darauf angelegt, lokalspezifische Räume visuell so zu beschreiben, dass sie für den Betrachter des 17. Jahrhunderts imaginativ begehbar und erfahrbar wurden. Aus dieser Perspektive kann die ältere flämische Landschaftstradition des 16. Jahrhunderts mit Künstlern wie Pieter Bruegel d.Ä. und dem sogenannten Meister der kleinen Landschaften als wichtiger Wegbereiter für die spätere Entwicklung im Norden aufgefasst werden, die bekanntlich nach 1610 in der Haarlemer Druckgrafik ihren Anfang nimmt.
Vielleicht ist es dieser auf den holländischen Realismus fokussierten Blickrichtung geschuldet, dass dem um 1600 anzusiedelnden Landschaftsœuvre des später geborenen flämischen Malers Jan Brueghel d.Ä. (1568-1625) in der Kunstgeschichtsforschung lange Zeit nur geringe Beachtung zuteil wurde. Offenbar betrachtete man seine Kompositionen von Paradieslandschaften, religiösen und fantastischen Landschaftsszenen im Kontrast zu der parallelen Entwicklung neuer lokalspezifischer Bildsujets in Holland als vergleichsweise unmodern. Erst in den letzten Jahren zeichnete sich durch eine vermehrte Beschäftigung mit der internationalen Vernetzung und dem künstlerischen Austausch des zu seiner Zeit renommierten Malers ein Perspektivschwenk ab, der auch dazu anregte, Brueghels Bildkonzepte, gerade im Hinblick auf seine Blumen- und Kartuschenstillleben, neu zu bewerten. [2]
Mit Leopoldine Prosperettis Studie, die aus einer an der Johns Hopkins University in Baltimore verfassten Dissertation hervorgeht, ist unlängst erstmals eine englischsprachige Monografie erschienen, die sich dezidiert mit Brueghels Landschaftskonzeption beschäftigt. Es ist das erklärte und verdienstvolle Ziel der Autorin, Brueghels Landschaftswerke nicht in erster Linie auf ihren realistischen Gehalt, ihren "sense of place" zu befragen, sondern sie vielmehr als "easel paintings with landscape settings" zu begreifen, "that turn a variety of subjects into a goal-oriented fiction" (16). Diese "fiction" verortet Prosperetti in einer das Antwerpen des ausgehenden 16. Jahrhunderts prägenden philosophischen Kultur. Diese macht sie wesentlich an der Verbreitung und Rezeption von (antiker) Konsolationsliteratur um Cicero, Seneca und Boethius sowie (neo)stoischem, christlich durchdrungenem Gedankengut um Erasmus, Dirck Volckertsz Coornhert und Justus Lipsius fest.
Die Autorin vertritt die These, dass Brueghels Landschaftskompositionen vom gelehrten Rezipientenkreis seiner Auftraggeber als rhetorisch angelegte philosophische Anleitung zur geistigen Erquickung und inneren Einsicht verstanden werden konnten. Demzufolge luden die piktoralen Muster des Ruralen in den verschiedenen 'landscape settings' der Wald-, Dorf- oder Flussszenen den Betrachter dazu ein, einen imaginativen Weg zum kontemplativen, Weisheit suchenden otium einzuschlagen. Diesen hermeneutisch vertieften Umgang mit Bildern sieht Prosperetti zugleich in der alten Tradition christlicher Exegese und meditatio verankert. Mit ihrer auf philosophische Aspekte konzentrierten Forschungsperspektive betritt Prosperetti freilich kein Neuland. Daher wäre eine nicht allein auf den Anmerkungsapparat beschränkte Einführung in die entsprechende Forschungsdiskussion wünschenswert gewesen. Bereits Justus Müller Hofstede hat, allerdings vorrangig mit Bezug auf Pieter Bruegel d.Ä., die Bedeutung der stoischen Philosophie für die Entwicklung einer neuen Landschaftsästhetik hervorgehoben, die das tradierte Konzept der Weltlandschaft durch eine zunehmende Ausdifferenzierung verschiedener Landschaftstypen auflöste. [3] Prosperetti erweitert mit ihrer Konzentration auf Jan Brueghel diese Blickrichtung. Dabei zeigt sie auf, wie sich Brueghels Landschaften durch einen neuartigen motivischen Fokus auf Aspekte des alltäglichen, zeitgenössischen Lebens aus der bildsymbolischen Tradition von Malern der älteren Generation wie Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel d.Ä. gelöst hätten. Auf diese Weise, so Prosperetti, überführten Brueghels Kompositionen die alte christliche Bildtradition der Lebensreise nahezu als "philosophical genres" (7) in ein rurales "being-in-the-world" (3) "to generate a comprehensive vision of the human condition as it unfolds along the traveled roads and waterways of Brabant" (17).
Anhand von fünf Bildbeispielen, die das Sujet des befahrenen Reiseweges verhandeln, führt Prosperetti im ersten Kapitel in diese These ein. So zeigt sie auf, wie in den zeitgenössisch anmutenden Schilderungen des brabantischen Lebens tradierte Metaphern der menschlichen Lebensreise eingebettet seien und antithetisch oder graduell strukturierte Exempla im Sinne philosophischer Prinzipien der Lebensführung als Reflexionsmuster angeboten würden.
Mit welchem diskursiven Erwartungshorizont der kultivierte Auftraggeber beziehungsweise der kunstverständige liefhebber an dieser visuellen Diskussion philosophischer Lebensführung partizipierte, erläutert sie in ihrem zweiten Kapitel: Hier legt sie dar, wie sich im Antwerpen der Frühen Neuzeit eine neostoisch geprägte Kultur entwickelte, die mit dem zeitgleichen Aufkommen neuer, nicht mehr ausschließlich beziehungsweise explizit religiöser Bildgenres in einem engen Wechselverhältnis stand. In den sich anschließenden fünf Kapiteln - "Burning cities, red-hot forges and time pieces: commonplaces of experience", "Pingere rura (Depicting fields)", "The Tower of Scipio: Neo-Stoicism and its rewards", "Anatomy of greenery: the vegetal lexicon" und "Spokes and felloes: updating the wayfaring topos" - macht Prosperetti in den Werken Brueghels verschiedene philosophische Denkmuster aus, in denen sie jeweils die Facetten zeitgenössischer Exerzitien zur weisheitsorientierten Lebensführung konturiert sieht.
In ihrer netzartig angelegten Argumentationsstruktur verfolgt Prosperetti nicht das Ziel, Brueghels Landschaftsœuvre stilistisch oder motivisch mit dem Anspruch auf vollständige Klassifizierung auszuloten. Analysen historischer Begriffs- und Denkkonzepte werden mit einer bemerkenswert offen angelegten Diskussion unterschiedlicher visueller Ausformungen wie einzelner Bildsymbole, formaler Gestaltungsmittel sowie komplexerer Bildstrukturen verschränkt. So geht es etwa im Kapitel "Anatomy of greenery" darum, die Semantik des Grünen in der Kunst und Philosophie der Frühen Neuzeit zum einen als ein philosophisch-theologisches Konzept der viriditas zu untersuchen und das Grün in der Malerei vor diesem Hintergrund im Kontext spiritueller Regeneration zu begreifen. Zum anderen verbindet die Autorin die konkrete bildsymbolische Ausgestaltung einzelner Baummotive aber auch mit dem Topos der Lebensreise.
Die Stärke der Untersuchung liegt insgesamt in den verschiedenen und zugleich miteinander vernetzten Blickrichtungen der einzelnen Kapitel, die den Anspruch widerspiegeln, "landscape settings" als diskursive Schnittflächen zu betrachten. Dabei vermeidet Prosperetti bei der begleitenden Analyse von Textquellen ein verengendes 'Lesen' von fixierten Bildsymbolen und behält die imaginative Reichweite des bildspezifischen Potenzials im Fokus. Nicht zuletzt deshalb wäre eine bessere Abbildungsqualität sinnvoll gewesen. Mitunter ergeben sich durch die fächerartige Strukturierung Redundanzen in Form von häufigen Wiederholungen grundlegender Thesen. Diese partielle Lockerung der Stringenz lässt an anderen Stellen auch eine analytische Vertiefung wünschenswert erscheinen. So bleiben die Diskussionen einzelner Textpassagen und die Analysen der Landschaftsbilder bisweilen etwas unverbunden. Auch ließe sich etwa im letzten Kapitel der Aspekt des überraschend 'Modernen' in Brueghels Motivrepertoire gerade im Bezug auf den sozioökonomischen Erfahrungshorizont lokalspezifischer Landschaft noch weiter verfolgen.
Insgesamt jedoch eröffnet Prosperettis Studie eine methodisch inspirierende Forschungsperspektive auf das äußerst avancierte Landschaftskonzept Jan Brueghels d.Ä.
Anmerkungen:
[1] W.J.T. Mitchell: Gombrich and the Rise of Landscape, in: The Consumption of Culture, 1600-1800. Image, Object, Text, ed. by Ann Bermingham / John Brewer, London u.a. 1995, 103-118, hier 104.
[2] Vgl. z.B. Anne T. Woollett / Ariane van Suchtelen (eds.): Rubens & Brueghel: A Working Friendship (Ausstellungskatalog J. Paul Getty Museum, Los Angeles / Mauritshuis, Den Haag), Los Angeles 2006; Elisabeth Oy-Marra: Blumenstillleben zwischen Naturabbild, Metamalerei und antialbertianischem Bildkonzept: Von der Madonna in der Blumengirlande Brueghels d.Ä. zu den Kartuschenstillleben von Daniel Seghers und Umkreis, in: Vom Objekt zum Bild. Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600-2000, hg. von Bettina Gockel (= Zurich Studies in the History of Art, Special Issue), Berlin 2011, 65-91.
[3] Justus Müller Hofstede: Zur Interpretation von Bruegels Landschaft. Ästhetischer Landschaftsbegriff und stoische Weltbetrachtung, in: Pieter Bruegel und seine Welt. Ein Colloquium veranstaltet von der Freien Universität Berlin und dem Kupferstichkabinett der SMPK, hgg. von Otto von Simson / Matthias Winner, Berlin 1979, 73-142.
Miriam Volmert